Das Streunende und Struppige

31.01.2012
David Wagners Band setzt betont beiläufig ein. Der Erzähler will eigentlich nur den Müll runterbringen, wird aber von einer lauen Berliner Nacht auf die Straße gelockt. Er zeigt, wie anregend es in dieser Stadt sein kann, einfach loszulaufen, ohne irgendwo ankommen zu wollen.
Wer in Berlin spazieren geht, läuft in großen Fußstapfen. Schließlich ist es schon lange so etwas wie ein literarischer Mythos, dass man durch Alltagsbeobachtungen in dieser quirligen Stadt wesentliche Kennzeichen des Lebens in der Moderne erhaschen kann; Döblins "Berlin Alexanderplatz", der Flaneur Franz Hessel, der Film "Symphonie einer Großstadt" oder Christopher Isherwoods Gesellschaftspanorama "Goodbye to Berlin" lassen grüßen.

Allem alltäglichen Kiezbewusstsein seiner Bewohner zum Trotz ist Berlin traditionell eine Kulisse für große Geschichten. Spätestens seit der Wiedervereinigung und der gesellschaftlichen Entwicklung zur Berliner Republik erinnert man sich denn auch wieder ausgiebig daran. Es hat ja zuletzt keineswegs zu wenig Berlinbücher und Berlinromane gegeben.

David Wagners Band "Welche Farbe hat Berlin", der Feuilletons, Glossen, Spaziergangsbeschreibungen und Erzählungen des 1971 geborenen und in Berlin-Prenzlauer Berg lebenden Schriftstellers enthält, setzt nun allerdings betont beiläufig ein. Der Erzähler will eigentlich nur den Müll runterbringen, wird aber von einer lauen Berliner Nacht auf die Straße gelockt und läuft ums Karree, den Müllbeutel immer in der Hand.

Er trifft auf einen Bekannten, wechselt mit ihm ein paar Worte, trifft auf US-Touristen, sieht unbebaute Grundstücke, abgerissene Plakate, Ladenlokale. Dann geht er wieder zurück und wirft die Abfalltüte in den Müll. Das war's dann schon. Aus solchen Spaziergängen, die immer auch etwas sich ungeplant Entwickeltes haben, besteht dieser Band.

Das Beiläufige darf man durchaus programmatisch verstehen. David Wagner will kein Berlinbild festschreiben, eher will er es in Bewegung halten. Berlin sei ein "Ort, der sich ständig mit sich selbst beschäftigt und immerzu in Selbstdefinitionen übt", heißt es in einer anderen Geschichte.

Diesen Selbstdefinitionen setzt David Wagner keineswegs andere Definitionen entgegen, eher setzt er etwas daneben: Versuche zu erkunden, wie es sich tatsächlich anfühlt, mit offenen Augen durch die deutsche Hauptstadt zu laufen - und dabei immer wieder auf Zeugnisse aus der Geschichte zu stoßen, aber auch auf Füchse und weiße Flecken im Stadtbild; auf neubürgerliche Town Houses und renovierte Straßenzüge, aber auch auf umgekippte Einkaufswagen; auf proletarische Nudisten in der Hasenheide, aber auch auf die Normalität prekärer Szene-Lebensentwürfe. Dass zum Berliner Lebensgefühl eben auch etwas Streunendes und Struppiges und aus den großen Geschichten immer wieder Herausfallendes gehört, das kann man diesem Band eindringlich entnehmen.

Schon in seinen vorangegangenen Büchern setzt David Wagners literarische Fantasie stets an konkreten Beobachtungen an. "Vier Äpfel", sein 2010 erschienener Roman, handelt im Wesentlichen von einem Einkauf im Supermarkt. Ein sehr schönes Buch hat er ausgehend von den Satzfindungen seiner Sprechen lernenden Tochter geschrieben: "Spricht das Kind".

Und in seinem Debütroman "Meine nachtblaue Hose" aus dem Jahr 2000 wird ein Besuch bei seinem geschiedenen Vater zum Anlass für akribischen Erkundungen der eigenen Erinnerungen. Mit "Welche Farbe hat Berlin" hat er nun einen detailreichen, mit seinen in Bewegung bleibenden Beobachtungen die Aufgeregtheiten der Berlindiskurse aufs schönste unterlaufenden Sammelband vorgelegt. Er zeigt, wie anregend es in dieser Stadt sein kann, einfach loszulaufen, ohne irgendwo ankommen zu wollen - auch nicht in einer neuen großen Berlingeschichte.

Besprochen von Dirk Knipphals

David Wagner: "Welche Farbe hat Berlin"
Verbrecher Verlag, Berlin 2011
216 Seiten, 14 Euro
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