Das starke Geschlecht

Von Michael Frantzen · 25.09.2013
Lettland kann sich innerhalb Europas rühmen, die meisten weiblichen Chefs in Unternehmen zu haben. Doch trotz ihres Gleichziehens mit den Männern in der Wirtschaft sind Lettlands Frauen in der Politik immer noch deutlich in der Minderheit.
"If a woman in Latvia want to start business: No problem."

Typisch Aiva Viksna: Probleme? So etwas gibt es bei ihr nicht. Probleme sind für die lettische Geschäftsfrau "Möglichkeiten". Die Mittfünfzigerin strahlt in ihrem Riesen-Büro am Stadtrand Rigas, der Hauptstadt Lettlands, in dem die Bilder eines jungen lettischen Malers von gutem Geschmack künden – und zwei überdimensionierte Safes davon, wer hier das Sagen hat. Erst vor ein paar Jahren ist die Frau im lila Kostüm in den "Business Park" gegenüber der Technischen Universität umgezogen. Sie brauchte mehr Platz für ihr Verlagshaus. 40 Angestellte hat sie. Hinzu kommen Beteiligungen an diversen Startups. Dass sie es als Frau in Lettland soweit bringen konnte: für Aiva Viksna kein Zufall. Sie blättert in einem Stapel Papiere, bis sie fündig wird: Hier! Die Statistik von Euro-Stat, der europäischen Statistikbehörde. Danach hat Lettland gemeinsam mit dem Nachbarland Litauen von allen EU-Staaten den höchsten Anteil weiblicher Führungskräfte: 41 Prozent.

Meine Großmutter war eine unglaublich starke Frau"
"Es gibt drei Gründe, warum wir lettischen Frauen so aktiv sind. Erstens: Wir sind besser ausgebildet als die Männer. 60 Prozent der Hochschul-Absolventen in Lettland sind Frauen. Zweitens: Wir sind sehr ehrgeizig. Wenn wir etwas wollen, bekommen wir es. Und drittens hat es auch mit unserer Geschichte zu tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg verloren viele lettische Frauen ihre Männer. Durch den Krieg. Und die von den Sowjets verhängten Deportationen nach Sibirien.

Das war in meiner Familie auch so. Und was haben meine Großmutter und die anderen Frauen gemacht? Sie haben die Rolle ihrer Ehemänner übernommen – und sich nicht nur um die Kinder gekümmert, sondern auch gearbeitet. Meine Großmutter war eine unglaublich starke Frau. Sie hat das an uns weitergegeben. Wenn ich mir heute meine Tochter anschaue: Sie ist 22 – und sehr stark, sehr ehrgeizig."

Um halb sieben ist Aiva Viksna heute Morgen aufgestanden, seit acht ist sie im Büro. Sie holt ihr weißes Smartphone heraus und fängt an durch ihren Terminplaner zu scrollen: Gleich um 10 Uhr: Strategiesitzung, über eine mögliche Neu-Investition in der Ukraine; 11.30 Uhr: Vorstandstreffen. Kurze Mittagspause. Und dann um 14 Uhr trifft sie sich mit drei Kolleginnen von "Lidere", dem vor zehn Jahren gegründeten Frauennetzwerk lettischer Unternehmerinnen und Führungskräfte. "Lidere" liegt der Powerfrau besonders am Herzen – nicht nur weil sie dessen Vorsitzende ist. Sie zeigt auf ihr Handy: Auf einem Foto sind zwei junge Frauen zu sehen. Es sind ihre Schützlinge. Zwei Firmengründerinnen – beide aus der Modebranche – mit denen sie sich einmal im Monat trifft, um ihnen Tipps zu geben. Die werden schon ihren Weg gehen, meint die Frau, die einst, zu Sowjetzeiten, als Lettland Teil der UdSSR war, ihr Geld als Lehrerin verdiente. Bei anderen ist sie sich da nicht so sicher.

"Wir sagen in Lettland manchmal schon scherzhalber: Unsere Männer brauchen ein Förderprogramm. Damit sie stärker und ehrgeiziger werden. Das fängt ja schon in der Schule an: Unsere Mädchen wissen früh, was sie wollen. Sie wollen gute Noten, um später studieren zu können. Für die brauchen wir keine extra Förderung oder Quoten. Doch die Jungs? Meiner zum Beispiel ist 14. Er lässt sich treiben. 'Ja, vielleicht. Ich weiß nicht. Ach lieber nicht.' Meine Tochter war in seinem Alter ganz anders. Er sitzt ständig vor dem Computer. Er programmiert. Auch da sind Mädchen anders: Wenn die online sind, wollen sie mit anderen kommunizieren."

Mit dem unterschiedlichen Kommunikationsverhalten der Geschlechter hat auch schon Ilze Vinkele so ihre Erfahrungen gemacht. Die 42jährige hat drei Söhne – und auch sie bleiben in der virtuellen Welt lieber unter sich. Ansonsten aber sind die drei wohlgeraten, meint die Frau mit den aufgeweckten Augen lachend. Seit zwei Jahren ist die ehemalige Sozialarbeiterin "Ministerin für Soziales" im Kabinett von Premierminister Valdis Dombrovskis.

Ihr Amtssitz liegt in der Innenstadt von Riga, in einem wuchtigen neoklassizistischen Gebäude mit endlosen Fluren und dunklen Zimmern, die einem Kafka-Roman entsprungen sein könnten. Der Ministerin hebt die Hände: Ist ihr eigentlich auch alles zu düster hier. Besonders das Büro samt des mächtigen Schreibtisches, den sie von ihrem Vorgänger geerbt hat. Deshalb flüchtet sie, so oft es geht, in den kleinen Aufenthaltsraum neben-an. Sie hat ihn selbst eingerichtet: Ein Beistelltisch, ein weinrotes Sofa, an der Wand das Portrait einer schwarzen Kubanerin.

"Ich mag das Foto. Weil darauf eine Frau zu sehen ist. Die offensichtlich sehr viel zu tun hat. Der Fotograf hat wirklich ein gutes Auge gehabt: Wie er die Frau bei der Arbeit eingefangen hat. Es ist keines dieser gestellten Standard-Fotos. Diese Frau sieht beschäftigt aus."

Beschäftigt ist auch Ilze Vinkele – ziemlich sogar. Sie kommt gerade von einer morgendlichen Haushaltssitzung des Kabinetts. Zwar hat Lettland nach der schweren Wirtschaftskrise 2009 durch eine Reihe radikaler Reformen wieder Fuß gefasst und letztes Jahr mit 5,6 Prozent das höchste Wachstum aller EU-Länder aufweisen können – der Reformeifer aber soll nicht erlahmen. Deshalb will die konservative Regierung die Lohnnebenkosten senken. Die Frau, die eigentlich gerne und viel lacht, verzieht unmerk-lich das Gesicht. Das Ganze muss gegenfinanziert werden. Sprich: Höchstwahrscheinlich wird ihr Budget gekürzt. Am Nachmittag trifft sie sich mit den Sozialpartnern - Arbeitgebern und Gewerkschaften - um über das weitere Vorgehen zu beraten.

"Da werden wieder fast nur Männer am Verhandlungstisch sitzen. Wirklich: Fast nur Männer. Ich wünschte mir manchmal, es wären mehr Frauen dabei. Wir Frauen sind emotionaler. Nicht so konfrontativ. Wenn mehr Frauen anwesend sind, verlaufen die Gespräche harmonischer."

In der Politik sind Frauen in der Minderzahl
So aber wird Ilze Vinkele wieder fast allein auf weiter Flur sein. Sie kennt das schon. Mögen Lettlands Frauen in der Wirtschaft auch längst zu den Männern aufgeschlossen haben: In der Politik sind sie immer noch in der Minderzahl. Darüber kann auch eine Vaira Vike-Freiberga nicht hinwegtäuschen, die von 1999 bis 2007 Präsidentin des Balten-Staates war. In der Saima, dem lettischen Parlament, sind gerade einmal 19 von 100 Abgeordneten Frauen. Nicht viel besser die Situation im 13köpfigen Regierungskabinett: Dort ist Ilze Vinkele eine von nur vier Frauen. "Suboptimal" nennt die Ministerin das, zu deren Aufgabengebiet auch die Gleichstellung von Mann und Frau zählt.

Doch zumindest privat scheint es mit der Emanzipation besser zu klappen. Sie schaut zu dem kleinen gerahmten Foto ihres Mannes neben dem Sofa. Auch er Politiker. Seitdem seine Frau im Kabinett sitzt, ist er kürzergetreten, um sich mehr um ihre drei Jungs zu kümmern. Vinkele kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nicht alle Männer hätten dafür Anfangs Verständnis gehabt – inklusive ihres Vaters. Doch auch der habe auf seine alten Tage dazu gelernt: Dass selbst das "starke Geschlecht" zuweilen zurückstecken kann. Und Frauen durchaus Familie und Beruf unter einen Hut bekommen können.

"Wir haben in Lettland eine sehr gute Quote berufstätiger Frauen. Da liegen wir über dem EU-Durchschnitt. Aber wir haben auch Schwachpunkte. Es gibt bei uns viel zu wenige Kinderbetreuungsplätze. Gerade bei den ganz Kleinen, also den Kindern zwischen anderthalb und fünf. Das muss sich ändern. Mein Ministerium hat gerade ein neues Programm auf den Weg gebracht. Wir unterstützen dabei Kommunen, die Tagesmütter engagieren – für die Kinder junger Mütter. Es soll ihnen helfen, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen."

In ihren zwei Jahren als Sozialministerin hat sich Ilze Vinkele einen Namen gemacht – als engagierte und streitbare Frau. Den lettischen Medien ist das nicht verborgen geblieben: Das eine oder andere Blatt hat sich schon Gedanken gemacht, was aus ihr noch alles werden könnte.

"Ich denke, Lettland hat längst eine Premierministerin verdient. Also jetzt im Allgemeinen. Nicht, dass Sie auf falsche Gedanken kommen. Ich selbst versuche nur, diese Legislaturperiode heil zu überstehen. Danach schauen wir weiter."

Ein weiblicher Premier – das wäre auch ganz nach dem Geschmack von Agnese Hauka. Die Hälfte der Woche arbeitet die lebhafte 29-Jährige in Riga, beim lettischen Bauernverband. Die andere Hälfte inklusive der Wochenenden aber ist sie in Lecava, ihrer Heimatstadt, einem verschlafenen Provinznest vierzig Kilometer südlich der Hauptstadt. Einen Supermarkt samt Apotheke gibt es hier, einen wildromantischen Park und eine Kirche, die noch aus baltendeutschen Zeiten stammt: Viel mehr ist nicht. Doch Agnese stört das nicht, im Gegenteil: Hier hat sie ihre Ruhe, genießt sie die Natur.
Seit zwei Jahren nistet das Storchen-Pärchen jetzt schon auf dem Strommast vor dem Bauernhof von Agneses Freundin Ruta, zu der sie heute Mittag gefahren ist. Dieses Jahr haben die Störche das erste Mal Nachwuchs. So etwas kann man in Riga lange suchen, meint die junge Lettin – und breitet die Arme aus: Die Störche; die sanft vor sich hin wogenden Weizen- und Roggenfelder; die Erdbeer- und Himbeerstauden – das ist ihre Welt. Die Hauptstadt weniger. Zu viel Verkehr, zu viel Hektik, zu viele Menschen. Und Männer, die ihr bei Arbeit Steine in den Weg legen.

"Als Frau sollte ich wohl lieber den Mund halten"
"Ich persönlich: Ja, ich bin auch schon gegen diese imaginäre Glasdecke gestoßen, von der immer die Rede ist. Wo ich als Frau Entscheidungen von Männern nicht nachvollziehen konnte – und diskriminiert wurde. Das war vor zwei Jahren, bei meinem letzten Job. Ich habe damals in einer anderen Abteilung des Bauernverbandes gearbeitet, als Beraterin. Ich hatte ein paar Ideen, wie man die Arbeit verbessern könnte. Das habe ich meinen Bossen auch vorgetragen. Vier Männern. Sie haben mich völlig ignoriert. Wirklich komplett. Danach hatte ich das Gefühl, als Frau sollte ich wohl lieber den Mund halten. Das war für mich nicht akzeptabel. Deshalb bin ich gegangen. "

Keine leichte Zeit. Bei Ruta, ihrer älteren Freundin und Mentorin, hat sich Agnese damals Rat geholt. Was die sagt und tut, meint die junge Frau anerkennend, hat Hand und Fuß. Die Gelobte strahlt derweil übers ganze Gesicht. Ruta Aboltina ist an die Tür ihres "Sauna-Hauses" gekommen, um Agnese zu begrüßen. Beide umarmen sich, bevor sie sich hinsetzen, um ein paar Sachen zu besprechen. Für Sonntag, wenn die Landwirtin Agnese und die anderen Mitstreiterinnen des "Frauen-Wirtschaftsclubs Lecava" wieder zu sich nach Hause einlädt; zum Saunieren und Diskutieren. Über neue Geschäftsideen und wie es ist, als Unternehmerin in Lettland über die Runden zu kommen.

"Lettland ist ein gutes Pflaster für Geschäftsfrauen wie mich. Ja sicher. Wir können alles erreichen, wenn wir nur wollen. Schauen Sie mich an: Ich habe meine Landwirtschaft. Plus ein Gästehaus und eine Werkstatt im Stadtzentrum. Natürlich freut mich diese Statistik; dass wir die meisten weiblichen Führungskräfte in der EU haben. Aber es sollten ruhig noch mehr werden. Mindestens 50 Prozent. Unserer Wirtschaft kann davon nur profitieren. Wir Frauen sind sozialer eingestellt, teamorientierter. Bei Männern geht es doch nur ums Business; ums Geld. Wir Frauen sind ganzheitlicher. Natürlich wollen auch wir Geld verdienen, aber das kann doch nicht alles sein. Der soziale Frieden ist uns genauso wichtig."

Die Bienen sind Ruta Aboltinas neueste Geschäftsidee. Über 80 Bienenstöcke hat sie. Einige befinden sich auf ihrem weitläufigen Hof, den sie zusammen mit Tagils, ihrem über 80 Jahre alten Mann und ein paar Angestellten betreibt, die restlichen hat die ausgebildete Wirtschafts-Wissenschaftlerin, die schon zu Sowjetzeiten in einer Kolchose das Kommando inne hatte, strategisch in der Umgebung verteilt: vier, fünf direkt an einem Kiefernwald, den Rest am Rande einer Streuwiese. Damit sie auch Wald- und Feldhonig anbieten kann neben dem normalen Honig und den Kosmetikprodukten auf Honigbasis.

Es ist ein schöner, spätsommerlicher Tag - die Frau mit dem zerfurchten Gesicht dreht sich um und geht zu ihrem Gewächshaus. Am Eingang stehen schon Körbeweise Gurken zum Abtransport bereit. In zwei Stunden will sie mit ihrem Klein-Transporter nach Riga fahren, um die Gurken auf dem traditionsreichen Wochenmarkt neben dem Bahnhof zu verkaufen. Ein Zusatzverdienst, auf den sie am liebsten irgendwann verzichten würde. Denn genau wie Agnese, ihre Freundin, mag sie die Hauptstadt eigentlich nicht. Erst letztens, erzählt sie, hätte sie ein junges Ding gefragt, wie sie es als intelligente Frau nur in der Provinz aushalten könne.

"Immer nur Riga, Riga. Ich kann es schon gar nicht mehr hören. Als ob wir auf dem Land hinterm Mond lebten. Das ist doch Blödsinn. Wir sind viel tatkräftiger und experimentierfreudiger als die Leute in Riga. Für mich als Frau ist es hier keinen Deut schwieriger als in der Hauptstadt. Wir Landfrauen haben viele Möglichkeiten, uns zu verwirklichen. Wirklich viele, viele Möglichkeiten."
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