"Das Singen, das kann man nicht lassen"

Holger Krause im Gespräch mit Andreas Müller · 20.03.2012
Die neun Jahre beim Leipziger Thomanerchor hatten für den Sänger Holger Krause "Prozesscharakter", um musikalische Reife und Bildung zu erlangen. Danach nur zu wenigen mit dem Ensemble Amacord aufzutreten, sei allerdings eine Umstellung gewesen, sagt er.
Andreas Müller: Der Thomanerchor ist einer der berühmtesten Chöre der Welt und inzwischen auch schon ein ziemlich alter. Ihren 800. Geburtstag feiert diese Leipziger Institution jetzt mit einer Festwoche. Die Thomaner sind nicht nur berühmt für ihre Engelsstimmen, bekannt ist die gute schulische Ausbildung, und berüchtigt ist auch der Drill, ist die Disziplin im sogenannten Kasten, dem Internat, in dem die Kinder und Jugendlichen viele Jahre leben.

Durch diese Schule ging auch Holger Krause, der den Gesang zum Beruf gemacht hat. Er singt heute im Ensemble Amacord. Schönen guten Tag, Herr Krause!

Holger Krause: Schönen guten Tag, Herr Müller!

Müller: Gehen wir einmal zurück. Wann war für Sie denn klar: Ich will ein Thomaner werden?

Krause: Das war für mich länger nicht klar, ich habe mich auf das Experiment eingelassen, was da meine Musiklehrerin und meine Eltern eingeleitet haben: Probier das doch mal, du singst doch gut und gerne. Und dann durchläuft man so eine Eignungsprüfung und diverse Zwischenprüfungen und einen musikalischen Unterricht, und am Ende steht dann die – quasi - Aufnahmeprüfung, kurz vor den Sommerferien. Und die bestand ich auch und war mir noch gar nicht so im Klaren, was das bedeutet, als dann das Schreiben kam: Du bist aufgenommen! Und dann wollte ich nämlich nicht mehr, weil ich irgendwie ahnte, von Zuhause weg, von den Freunden weg, Internat, so viele Fremde – das wird was, was mir sicherlich schwerfallen wird. Ich hatte das irgendwie instinktiv geahnt. Also ich war nicht einer von denen, die stürmisch dorthin drangen, um unbedingt im Thomaner-Chor zu singen. Also ich musste ein bisschen dahin geschoben werden.

Müller: Also Sie hatten schon ein bisschen eine Ahnung oder ein Gefühl dafür, auf was Sie sich da einlassen würden. Was erinnern Sie denn von den ersten Tagen im Internat, im sogenannten Kasten? Wie war das, als man da ankam?

Krause: Es war von großer Ehrfurcht, von großem Respekt meinerseits geprägt, weil nun alle oder fast alle, die dort rumliefen, schon wesentlich mehr Erfahrung hatten, die Abläufe kannten. Dann ist man in dem Internat, was 1881 gebaut wurde und damals noch nicht so renoviert oder auf den neuesten Stand gebracht wie heute – also die ganze Aura, die ganze Atmosphäre atmete diesen alten Geist. Es war wunderschönes Wetter, aber ich konnte es nicht so richtig genießen, weil ich gleich merkte: Mich hierauf einzulassen, auf den Tagesablauf, das wird nicht leicht, und auch wenn die Eltern nur fünf Kilometer weit weg wohnten, zu der Zeit fing das Heimweh dann auch schon relativ bald an. Also, es fiel mir sehr schwer am Anfang.

Müller: Wie alt waren Sie, so zehn, elf?

Krause: Ich war schon zehn, ich kam mit zehn rein.

Müller: Man liest ja viel von diesem Drill und der Disziplin, diese Tagesabläufe, die nur aus Arbeit zu bestehen scheinen, kaum Freizeit, strenges Regiment von den Älteren, das die dort ausüben. Beschreiben Sie doch mal, was Sie da erlebt haben.

Krause: Na ja, das muss man ein bisschen einschränken. Also, wenn man es selber erlebt, dann erlebt man möglicherweise beide Seiten. Sowohl das Strenge, was durchaus auch einen gewissen Druck ausüben kann, als auch die Freiräume sich dann zu suchen. Also, es war zum Beispiel ganz beliebt, nach einem Probentag noch eine Stunde auf dem kasteneigenen, internatseigenen Fußballplatz zuzubringen. Also, das war ganz wichtig, und wenn man am Nachmittag Freizeit hatte und die Hausaufgaben gemacht hatte, dann konnte man auch raus. Also es gab die Freiräume.

Natürlich, der Zeitplan war durchgetaktet. Mit der Schule ging es los, am Morgen hat eine Klingel geweckt, ziemlich unsanft – also, das war so eine richtige Schulklingel, 6.15 Uhr ging es zu meiner Zeit aus den Betten, und dann hatte man auch nur für die bestimmten Abläufe, Waschen, Frühstück, auch nur eine bestimmte Zeit. Und an die musste man sich halten. Wenn nicht, gab es da schon mal Ermahnungen oder auch Bestrafungen. Also man musste sich daran gewöhnen, anders würde aber dieses System natürlich nicht funktionieren, wenn jeder zu seiner Zeit das macht, was ihm gerade Spaß macht. Das geht gar nicht anders.

Müller: War bei Ihnen irgendwann mal das Gefühl, ich halte das hier nicht mehr aus, ich will weg? Oder war die Kunst dann doch stärker?

Krause: Die Kunst war stark. Das müsste ich vielleicht noch ergänzen, weil das vielleicht aus meiner Sicht allzu schrecklich klingt, diese erste Zeit dort verlebt zu haben. Also es gab natürlich auch andere Charaktere, die waren wie befreit, dass sie jetzt unter Jungs quasi, ohne Elternaufsicht sein durften. Die hatten überhaupt kein Heimweh. Das war vielleicht sogar die Mehrzahl. Und dann gab es eben die Sensiblen, wie mich, die damit schon ein, eineinhalb Jahre zu tun hatten. Aber es kam eigentlich zu keiner Zeit der Gedanke auf, ich müsste jetzt hier gehen. Ich hab das so ein bisschen für mich behalten.

Meine Mutter hat mir später mal gesagt, wenn du mir das alles erzählt hättest, dann hätte ich dich sofort vom Chor genommen. Das ist ja unerträglich. Eine Mutter hält das wahrscheinlich noch schlechter aus. Aber irgendwie habe ich auch dann, in dieser Zeit geahnt: Wenn ich das jetzt hier irgendwie durchstehe und einmal im Jahr gemacht habe, dann wird mir das irgendwann auch leichter fallen. Und die Musik, insbesondere Bachs Musik von Anfang an, war tatsächlich in schweren Zeiten auch immer ein Trost, also immer eine Brücke, die einen wieder dorthin geführt hat und einen beruhigt hat gewissermaßen.

Müller: Würden Sie Ihre eigenen Kinder auch zu den Thomanern geben?

Krause: Das kommt darauf an. Ich würde mir ihren Charakter, ihre Fähigkeiten, ihren Willen, das würde ich mir schon sehr genau angucken, und ich glaube, das muss man auch tun. Und sich sicherlich auch die Option offenhalten, wenn man es getan hat, ihn dahin zu schicken, zu beobachten, wie entwickelt er sich denn? Die meisten entwickeln sich prächtig über die Zeit, weil das schon eine Schule des Lebens ist und man viel Umgang mit Bildung hat und auch mit Interessen der anderen. Das prägt schon ungemein. Aber ich glaube, da muss man ein Auge drauf haben so wie mit allen Dingen, die man als Vater, als Mutter da Obacht geben muss mit seinen Kleinen.

Müller: 800 Jahre Leipziger Thomanerchor, wir sprechen hier im Deutschlandradio Kultur mit einem ehemaligen, Holger Krause vom Ensemble Amacord. Es sind gar nicht so viele, die durch die Schule der Thomaner gingen und hinterher eine musikalische Karriere einschlugen. Sie taten das vor 20 Jahren mit dem Ensemble Amacord, zusammen mit anderen Ehemaligen. Wie war das, neun Jahre diese Schule, diese Erlebnisse, ja auch diese Regeln, und dann steht man da. War das Ensemble auch vielleicht so ein Mittel, um mit einer eventuellen Lehre umzugehen, oder wie war das damals?

Krause: Sicherlich auch. Also es gab mehrere Gründe. Zum einen muss ich sagen, die neun Jahre zuvor hatten Prozesscharakter. Also je älter man wird, desto mehr schätzt man das, was man dort hat, was einen umgibt. Wie gesagt, die Bildung, die Musik, also, da setzt eine Reife ein und man bewegt sich auch zwischen diesen Regeln viel spielerischer. Und wenn man dann in der zwölften Klasse angelangt ist und weiß, das ist jetzt das letzte Jahr, ich mache mein Abitur und dann ist der Chor vorbei, dann wird man schon ein bisschen wehmütig, weil man viele, viele Dinge sehr lieb gewonnen hat. Und das muss man dann irgendwie mit sich ausmachen. Und dann ist natürlich die Frage, wie geht es weiter, dann steht man erstmal alleine da, und einerseits befreit vom Internatsaufenthalt, von Internatspflicht. Man kann tun und lassen, was man will, andererseits möchte man natürlich auch etwas haben, das einen ausfüllt.

Und so begannen wir schon 1992 mit dem Ensemble, da war ich noch im Chor, also das war quasi so ein nahtloser Übergang, aber am Anfang natürlich mehr als Hobby, als Spaß an der Freude und auch mit der Maßgabe, mal etwas auszuprobieren, was ganz neu ist. Wie so ein Experiment, also zu fünft, zu sechst auf der Bühne zu stehen, das ist schon ein großer Unterschied, als in der Chormasse aufzugehen. Und das war, glaube ich, der Reiz, und man merkt dann auch relativ schnell, dass das gut ankommt. Ja, und dann konnten wir davon nicht lassen. Also, das Singen, das kann man nicht lassen, ich glaube, das kann kein Thomaser so richtig.

Nichtsdestotrotz haben einige von uns auch keinen Gesang studiert. Die wollten in eine ganz andere Richtung gehen, weil es zu der Zeit auch noch gar nicht klar war, ob da mal ein Beruf draus wird. Also wir haben das wachsen lassen und das hat sich im Nachhinein eigentlich als das richtige Mittel dargestellt.

Müller: Auf dem Markt tummeln sich zahlreiche Männer-Vokalensembles. Inwieweit half es, ein ehemaliger – ich sage immer Thomaner, das sagen alle Außenstehenden, Sie dürfen Thomaser sagen, glaube ich?

Krause: Genau.

Müller: Inwieweit half es, ehemaliger Thomaner zu sein, um sich durchzusetzen. Also war dieser Drill, diese harte Schule da von Vorteil oder war die neue Freiheit vielleicht auch ein bisschen schwierig?

Krause: Natürlich ist dies schwierig, weil man jetzt Maßstäbe und Ziele selbst setzen muss. Im Chor ist alles vorgegeben, so hart der Ablauf ist, aber das hat immer den Zielpunkt: das nächste Konzert oder in der Schule die nächste Leistungskontrolle bis zum Zeugnis. Also im Prinzip muss man da nichts erfinden und so kreativ man da auch sein kann, letzten Endes ist das alles eingefasst. Wenn man dann raus ist, kann man dem freien Lauf lassen, man muss aber einen Punkt finden, woran sich das dann auch festmachen kann. Und da ist so ein Ensemble natürlich eine wunderbare Baustelle: All das, was man quasi verinnerlicht hat, auch selbst zu leben. Diese Fähigkeit zur Selbstorganisation, die Fähigkeit, sich selbst ein Ziel zu stecken und vor allem auch hartnäckig dranzubleiben. Ich denke, das sind alles so Tugenden, die man über die Jahre gelernt hat, weil sie einem quasi vorgegeben wurden und weil man sie dann verinnerlicht hat

Müller: Es gab vor ein paar Jahren eine ziemliche Debatte in Leipzig. Einige Eltern rührten an dem Tabu, also Ähnliches, was Sie eben über Ihre Mutter sagten, die ja so sagte, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich da rausgenommen, weil das alles zu hart sei. Viele halten es ja auch wirklich nicht aus. So ungefähr ein Drittel verlässt das Internat vor Ablauf der neun Jahre. Es gab also diese Debatte in Leipzig. Wie steht der Chor heute dar? Hat sich da was verändert? Ohne, dass es vielleicht eine künstlerische Einbuße gegeben hätte dabei?

Krause: Hat sich auf jeden Fall etwas geändert, obwohl mir die Zahl ein Drittel doch recht hoch gegriffen scheint. Es gibt immer mal wieder Abgänger. Das hat aber zum Teil sehr verschiedene Gründe. Es gibt auch Abgänger, die wegen ihrer künstlerischen Ausbildung den Chor nach der zehnten Klasse schon verlassen, weil sie Sänger oder Schauspieler werden wollen. Dann gibt es Abgänger, weil die Eltern weiter wegziehen, und es gibt natürlich auch Abgänger, die es tatsächlich nicht aushalten oder die sich vielleicht irgendwie eingeschränkt fühlen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Da ist das natürlich der absolut richtige Schritt. Aber diese Gründe dafür sind sehr heterogen.

Der Chor hat, wie ich weiß, in den letzten Jahren im Vergleich zu meiner Zeit auf viele Dinge reagiert. Die Eltern haben tatsächlich mehr Mitspracherecht, diskutieren mit. Die Abläufe sind etwas gelockert worden, so gibt es also auch keine Internatspflicht mehr wie zu meiner Zeit. Die Stuben sind verkleinert worden, also, die Lebensqualität und die Möglichkeiten jedes Einzelnen haben sich schon stark verbessert. Und das ist natürlich auch eine Reaktion auf die Zeit, dass man nicht mehr so weitermachen konnte, in dem Fall so ein bisschen antiquiert, wie es bei uns war.

Ich muss allerdings sagen: Mich hat es dann nach ein paar Jahren überhaupt nicht gestört. Ich hab mich überhaupt nicht als antiquiert oder rückwärtsgewandt oder im 19. Jahrhundert verhaftet gefühlt. Das war letzten Endes dann eine ganz selbstverständliche Sache, sich dort zu bewegen und die Abläufe mitzumachen. Und wir waren dennoch Jungs wie jeder andere auf der Straße, ja, die Fußball mögen, die sich für Mädchen interessieren, die auch einmal Unsinn machen – das passierte bei uns ganz genauso.

Müller: Also Sie würden das alles auch noch mal machen?

Krause: Ich denke ja. Ich hätte gar keine Wahl.

Müller: 800 Jahre Thomanerchor: Das war ein Ehemaliger, Holger Krause, der seit 20 Jahren mit dem Ensemble Amacord erfolgreich ist. Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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