Das "Shtetl Neukölln" in Berlin

"Ich liebe diesen Stadtteil"

Straßenecke im Reuterkiez in Berlin-Neukölln
Nicht nur Probleme: In Neukölln herrscht eine besondere Atmosphäre. © dpa / picture alliance / Rolf Kremming
Von Carsten Dippel  · 22.12.2017
Arbeitslosigkeit, Integrationsprobleme, Kriminalität - Neukölln gehört nicht zu den Vorzeigevierteln Berlins. Und doch herrscht hier eine besondere Atmosphäre, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, das beim "Shtetl Neukölln", einem Festival für jiddische Kultur, gefeiert wird.
Berlin-Neukölln genießt nicht unbedingt den besten Ruf. Laut und wild geht es hier zu, das Viertel ist geprägt von Arbeitslosigkeit, von Einwanderern. Sogar von einer No-go-Area für Juden ist zu hören. Zugleich zieht es viele Künstler, es ist der vielleicht aufregendste und intensivste Stadtteil Berlins. Die Geschichte, von der ich hier erzählen möchte, handelt von Menschen, für die Neukölln noch etwas ganz anderes ist. Nämlich ein Shtetl. Einst die Bezeichnung für die kleinen Städte der osteuropäischen Juden.
"Es ist interessant, dass Neukölln eine Art kleine Stadt geworden ist, wo die Menschen genau das teilen, was damals in jiddischen Städten Menschen geteilt haben", sagt Alan Bern. "Einen Tagesrhythmus, Interessen, sie pflegen Freundschaft miteinander. Man könnte sagen, Shtetl ist in diesem Sinne ein bisschen wie Kiez und ich finde es wichtig, es ist zum Teil auch ironisch, aber es passt auch zu sagen, Shtetl Neukölln. Neukölln möchte sich natürlich nicht taufen lassen als Shtetl, aber dass ein Festival sich so nennt, auch mit Augenzwinkern, finde ich gut."

Gemeinschaft, Zusammenschluss, Solidarität

Im "Shtetl Neukölln" sind mir keine Chassidim begegnet. Doch für vier Tage, zu Chanukka, hat eine kleine Gemeinschaft um die Musiker Daniel Kahn, Sasha Lurje und Ilya Schneyweys die Werkstatt der Kulturen im Herzen Neuköllns, gleich um den Hermannplatz, für sich erobert. Für ihr Jiddisch Festival "Shtetl Neukölln". Ob das nicht problematisch sei, ausgerechnet in Neukölln vom Shtetl zu sprechen, ist Daniel Kahn zuletzt häufiger gefragt worden. Er mag das nicht mehr hören:
"Shtetl ist problematisch, Neukölln ist auch problematisch. Ich liebe diesen Stadtteil. Ich lebe in diesem Stadtteil, obwohl der noch immer problematisch ist. Es ist halt ne Stadt. Es ist kompliziert, so wie ein Shtetl. Ein Shtetl steht für Gemeinschaft, Zusammenschluss, Solidarität, Community, Chaverschaft, wie wir sagen auf Jiddisch."
Das, was es seit vielen Jahren in New York, in Montreal, in Krakau und in Weimar gibt, findet nun zum zweiten Mal auch in Berlin statt. Hervorgegangen aus den Neuköllner Klezmersessions. Hier kamen Menschen mit den unterschiedlichen Backgrounds zusammen. Jüdisch, nichtjüdisch, versierte Klezmerspieler ebenso wie Laien, was jüdische Musik angeht. Sie alle haben gesungen, getanzt, ihre Instrumente ausgepackt. Und täglich mehrere Stunden in Workshops gelernt.
Sasha Lurje ist in einer russisch-jüdischen Familie in Lettland aufgewachsen, jedoch mit Jiddisch erst später in Berührung gekommen. Heute unterrichtet sie jiddischen Gesang:
"Wir sind ein Team, Musiker, die die jiddische Kultur lieb haben. Ein Gefühl, das gehört zur Klangschaft, das gehört hier zur Gegend und wir wollten das lauter machen und einen Platz dafür finden."
Aurelia Brecht sagt: "Wir haben Lieder gelernt und dabei auch die Übersetzungen bekommen und auch die Eigenheiten des Jiddischen uns angeschaut. Und dann eben musikalisch, z.B. am Ende einer Phrase, versucht, das anders zu betonen, zu seufzen, solche Dinge."

Musik für die Seele

Aurelia Brecht ist zum ersten Mal bei einem Jiddisch Festival und hat sich für den Gesangsworkshop entschieden. Musik habe sie schon immer begleitet. Sie promoviert derzeit über die deutsche Minderheit in Transsylvanien:
"Also diese Klezmermusik spricht ja schon die Seele an, würde ich sagen, für mich ist das nicht so fremd, also rumänische Volksmusik ist sehr nah am Klezmer."
Sie werde oft gefragt, erzählt mir Sasha Lurje, ob es okay sei, wenn Nichtjuden jüdische Musik machen:
"Für mich ist das eine komische Frage. Es ist normal, wenn Nichtamerikaner Jazz spielen. Das ist Kultur, das ist Musik in der Art, von was wir machen. Es hat Expression, es hat Geschichten, es hat Bedeutungen und es ist über Menschlichkeit und was es bedeutet, ein Mensch zu sein."
Angefangen hat das alles vor 17 Jahren, irgendwie, mit Alan Bern. Damals begründete der seit 30 Jahren in Berlin lebende Musiker den inzwischen legendären Yiddish Summer Weimar. Ein Festival, das jedes Jahr viele Freunde jiddischer Kultur, Sprache und Musik anzieht. Viele, die jetzt hier in Berlin sein Werk weiterführen, waren einst seine Schüler. So wie Ilya Schneyweys, der aus Lettland kommt und lange in Berlin lebte, bevor er nach New York ging:
"Die Musik ist sehr schön, sie ist nicht zu kompliziert, aber auch nicht ganz einfach. Man kann viele Sachen entdecken und ist einfach zum Mitspielen, jeder kann etwas finden, das ist gut für experience. Es ist gut, wenn ich kann Leute ein bisschen bilden und zeigen Klezmer ist nicht nur ‚Bey mir bist du sheyn’ und ‚Hava nagila’."

Im Mittelpunkt: Klezmermusik

Alan Bern merkt man die Freude über die Früchte seiner Arbeit an:
"Das ist das, was ich mir immer gewünscht habe für die jiddische Musik. Also nicht bloß eine Wiederholung von dem, was schon mal war und auch nicht wurzellose, einfach frei spielen und behaupten, das wäre jiddisch. Sondern tatsächlich historisch informierte Aufführungspraxis. Was ganz frei ist, in tausende verschiedene Richtungen gehen kann."
Die Workshops sind für die Instrumentalisten eine intensive Lernzeit. Auch für Laura, eine junge Ärztin aus Zürich. Sie war schon auf vielen Jiddisch Festivals dabei:
"Er hat die Basics unterrichtet. Was ist wichtig an der Klezmermusik, wie unterscheidet sie sich von anderen Stilrichtungen, was sind Ornamente, Verzierungen, die das ausmachen, wie spielt man die Dinge, die man am Anfang lernen muss, um zu wissen, wie Klezmer klingt."
Eva Lapsker ist in Leningrad aufgewachsen. Sie fühlt sich heute als ein Teil des Neuköllner Shtetls:
"Das ist der Teil, der uns sehr wichtig war, dass wir nicht ausschließend agieren. Es ist eine liberale Idee, weder eine religiöse noch nationale. Das sollte es nicht sein. Aber wir sind alle Teil der jiddischen Kultur, viele anderer Kulturen, wir nehmen die alle mit rein."
Im Begriff des Shtetls für das, was die Künstler hier in Berlin-Neukölln leben, steckt für die Sängerin Sasha Lurje nicht so viel Ironie:
"Es gibt sowas wie ein Shtetl hier. Wir alle gehen zu dem selben türkischen Markt, wir alle kommen hier in Werkstatt der Kulturen zu arabischen Jam Session und dann wir machen unser jüdische Festival hier. So, das ist unser Sthetl. Das ist auch die Gemeinde für so viele verschiedene Kulturen hier und das ist eigentlich was mich hier gezogen hat."
Das Foyer der Werkstatt der Kulturen ist wie jeden Abend zur Jam Session voll besetzt. Die Festival-Teilnehmer haben ihre Instrumente ausgepackt. All das, was sie in den Workshops erfahren haben, fließt hier zusammen. Was diese vier Tage besonders macht, ist die Qualität, Ernsthaftigkeit und Leidenschaft, mit der sich diese Festivalfamilie dem Klezmer widmet, der jiddischen Kultur und Sprache. So sagt Lapsker:
"Mit Shtetl verbinde ich eine Gemeinschaft, eine eingeschworene, familiäre Gemeinschaft, eigentlich etwas, was wir nur aus der Vergangenheit kennen. Es ist immer sehr gewichtig, wenn man dieses Wort benutzt. Und wir wollten das ein bisschen aus diesem Staub herausholen. Und das Schöne daran feiern."
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