Das Recht auf Kauzigkeit

10.02.2010
Neues vom Bodensee: Martin Walser hat eine Novelle geschrieben. Über die Verschrobenheit im Alter und die Verteidigung des Glaubens, über konkurrierende Männer und die Liebe.
Wenn Martin Walser ein dünnes Prosabändchen herausbringt, das die Gattungsbezeichnung "Novelle" führt und eine Art Generationsporträt anstrebt, merkt der Leser auf: das letzte Werk dieser Art hieß "Ein fliehendes Pferd", erschien 1978 und war sein bisher größter Hit.

Augustin Feinlein, den wir jetzt in "Mein Jenseits" vor uns haben, ist 63 – beziehungsweise: er hat "mit 63 aufgehört zu zählen". Und er, der Ich-Erzähler, verrät uns nicht, wie lange er schon zu zählen aufgehört hat. Jedenfalls ist er immer noch Chefarzt in einem oberschwäbischen Klinikum, aber sein Nachfolger, Dr. Bruderhofer, steht schon bereit und kann es kaum erwarten, dass der Alte endlich aufhört.

Augustin Feinlein entpuppt sich schon nach wenigen Sätzen als eine zugespitzte, treffsicher monologisierende Walser-Figur, er ist ein idealer Walser, ein Über-Walser, und fasst den Irrwitz seiner Umgebung in eine irrwitzige, haargenau pointierte Sprache.

"Mein Jenseits" ist eine Liebes- und eine Gesellschaftskomödie, ein Stück aus der Arbeits- und Bürowelt genauso wie aus der theologischen Werkstatt der letzten Dinge. Dass Feinlein aus einem Dorf namens "Letzlingen" stammt, ist nur eine der lustvoll zelebrierten Überdeutlichkeiten und Verstiegenheiten. Und Walser übertreibt seine bekannten Gefühlslagen und Handlungsmuster so zielgerichtet, dass sie zu einer ungeahnten Kenntlichkeit vordringen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil Augustin Feinlein alle möglichen Erscheinungsformen eines Altersnarren hat, und diese Narrenfreiheit, die Walser ihm zubilligt, könnte auch alle Grenzen der Verzweiflung sprengen.

Das "Jenseits" des Titels markiert eine religiöse Ebene, und tatsächlich hat ein Vorfahr Feinleins zur Zeit der Bauernkriege eine kostbare katholische Reliquie, die einige Blutstropfen Jesu zeigt, als Abt des Klosters gerettet. Feinlein betreibt eine exzessive Reliquienforschung, und ein Aufenthalt in Rom zeigt ihn bei ausgesuchten Caravaggio-Studien und Ausrufen wie "Rom ist mein Jenseits!" oder "Das Jenseits ist eine andauernde Leistung!"

Besonders aufregend findet er, dass Caravaggio es als einziger einmal fertiggebracht hat, die biblischen Überfrauen Eva und Maria in ein- und dieselbe Allegorie zu zwängen. Das trifft ihn auch autobiografisch: Eva-Maria ist seine große Liebe, aber sie hat zuerst den Grafen Wigolfing und dann eben den achtzehn Jahre jüngeren Dr. Bruderhofer, Feinleins potenziellen Nachfolger und Feind, geheiratet. Was sie nicht daran hindert, jedesmal Karten an Feinlein "In Liebe" zu schicken.

Walser spinnt also listig ein Netz aus biografischen, existenziellen und theologischen Verweisen, und er dringt in jene Sphären einer höheren Ironie vor, die er in den fünfziger Jahren proklamiert hat und immer erreichen wollte. Feinleins Narrentum hält die Welt, so wie sie ist, auf paradoxe Weise im Gleichgewicht. Er weiß, dass Reliquien nicht echt sind, er weiß, wie Eva-Maria Schicksal spielt. Und feuert doch immer wieder Salven ab wie: "Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist." – "Mein Jenseits" ist ein ewigjunger, scharf zugeschliffener Alters-Walser.
Besprochen von Helmut Böttiger

Martin Walser: Mein Jenseits.
Berlin University Press, Berlin 2010, 119 Seiten, 19,90 Euro