Das Prinzip Zufall

Rezensiert von Florian Felix Weyh · 17.05.2009
Bis zur Französischen Revolution spielte das Los auch in der Politik eine Rolle. Bei wichtigen Entscheidungen war das Prinzip Zufall in manchen Fällen ausschlaggebend. Der Greifswalder Ideengeschichtler Hubertus Buchstein fragt in seinem Buch "Demokratie und Lotterie", warum nicht auch heute der Zufall ins politische Geschehen eingreifen sollte.
Staatsbürger leben in mentalen Kokons: Das Gegebene gilt ihnen gewöhnlich als das Richtige. Wer im Absolutismus aufwuchs, konnte sich keine demokratische Existenz vorstellen; wer hingegen einmal im Jahr zur Wahl gerufen wird, hält das für ein Naturgesetz. Undenkbar, dass nach oder neben Wahlen etwas anderes die Politik gestaltete.

"Eine gelegentliche Beobachtung von Niklas Luhmann, in der er die 'Fähigkeit der Verwendung von Zufällen zum Aufbau von Strukturen in komplexer werdenden Gesellschaften' konstatiert, möchte ich (…) normativ in die Aufforderung umformulieren, sich bei zukünftigen institutionellen Reformvorhaben ungeniert der gesamten Palette potentiell positiver Funktionen der Lotterie zu bedienen."

... schreibt der Greifswalder Ideengeschichtler Hubertus Buchstein und traut sich was: Der Zufall soll statt des persönlichen Wählerwillens lenkend in politische Prozesse eingreifen? Oh Graus, denkt der an stagnative Stabilität gewohnte Bürger und senkt den Daumen, bevor er überhaupt Details vernommen hat. Das freilich zeugte nur von Borniertheit. Denn:

"Das Los ist ein neutraler und verfahrensautonomer Mechanismus, es ist unbedingt treffsicher, es ist kostengünstig, es entlastet Entscheidungsträger und Entscheidungsunterworfene, es erzeugt Kreativität und produktive Unsicherheiten."

... und was der Vorteile mehr sind, die dazu berechtigen, das Los zu rehabilitieren. Über Jahrtausende hinweg fristete es nämlich durchaus kein Mauerblümchendasein wie heute als bloßes Glücksspielinstrument, sondern nahm eine zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung ein. Von assyrischen Funden über die attischen Ämterverlosungen, vom vielfältigen Einsatz der Lotterie bei den Römern über Praktiken im frühen Christentum – das Wort "Klerus" zum Beispiel stammt direkt vom griechischen "cleros" (losen) ab –, bis hin zu den oberitalienischen Stadtrepubliken reicht das Spektrum. Wann immer man ein Bedürfnis nach eindeutigen und schwer zu korrumpierenden Entscheidungen hatte, griff man zum Los – unabhängig von der Staatsform. Die oligarchischen Römer etwa losten im Krisenfall aus, welcher Konsul einen Diktator ernenne solle, während die demokratischen Griechen die Richterwahl dem Zufall überließen. Losen, schlussfolgert Buchstein, ist politisch neutral. Allerdings gibt es Konstellationen, in denen alle Entscheidungsbäume hierarchisch gebahnt sind, so dass der Zufall keine Funktion mehr darin hat:

"Im neuen Ordnungsmodell der organisatorisch gestrafften monarchistischen Staatlichkeit war das Los dysfunktional geworden. Politische Positionen wurden per Kooptation besetzt oder verkauft und für die Spitzenämter in der Monarchie galt die Erbfolge."

Warum aber erlebte das Los mit dem Sieg der Französischen Revolution kein republikanisches Comeback? – Seinem Erfolg stand der philosophische Mainstream entgegen:

"Es ist ein unbändiger Impuls der abendländischen Philosophie, den Faktor Zufall unter Kontrolle bekommen zu wollen."

... konstatiert Hubertus Buchstein. In der Aufklärung spitzte sich das sogar noch zu:

"Nicht der 'blinde Zufall' soll Gesellschaft und Politik regieren, sondern kausale Gesetzmäßigkeiten unter der Kuratel vernünftig durchdachter Willensentscheidungen. Vernunft und Wille sind die beiden politiktheoretischen Basismodule, mit denen die neue Ordnung gebaut werden soll."

Wer heute also über das Los in der Politik nachdenkt, muss bei Null anfangen, verschüttetes Wissen zusammentragen, Vorurteile widerlegen und Klischees entschärfen. All dies tut Hubertus Buchstein in einer makellosen Prosa, wie sie in der Wissenschaft selten geworden ist. Selbst Skeptikern dürfte die Lektüre Genuss bereiten, da der Autor nicht nur alles bedenkt – neben philosophischen, religiösen, historischen Quellen sogar literarische Texte zum Thema erschließt –, sondern bei aller Objektivität nicht unsichtbar bleibt. Ein selbstironischer Nebensatz ...

"Möglicherweise wäre es gar keine so schlechte Idee, wenn die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine Quote von einem Prozent ihres Förderetats unter den Antragstellern auslost."

... verrät einiges von den Schwierigkeiten, innerhalb festgefahrener Institutionen innovative Gedanken zu verfolgen. Gegen solche Verkrustungen half schon immer das Los. Seine zwei Hauptanwendungsgebiete – die Auswahl von Repräsentanten und die Verteilung knapper Güter – beleuchtet der Autor bis in feinste Verästelungen hinein und kapituliert auch nicht vor der Sisyphos-Aufgabe, das apersonale, ungerichtete Zufallsprinzip mit unseren Gerechtigkeitsvorstellungen zu versöhnen. Dazu konfrontiert Hubertus Buchstein John Rawls "Theorie der Gerechtigkeit" mit dem imaginären "Losland" der amerikanische Schriftstellerin Barbara Goodwin und findet keinen eindeutigen Sieger. In "Losland" unterliegen alle Entscheidungsprozesse dem Zufall. Das betrifft auch "positionale Güter", die immer nur einer haben kann, zum Beispiel den Job eines Konzernvorstands:

"In Losland werden solche Güter zusammen mit allen anderen Gütern regelmäßig verlost und dadurch zumindest prinzipiell jederzeit für alle zugänglich. Sie verlieren wenig an ihrer Exklusivität, aber sie verlieren das zusätzliche Prestige, so dass die mit dem Besitz extrem knapper Güter einhergehenden Statuszuschreibungen verschwinden."

Zweifelsohne fänden wir es ungerecht, hierarchische Positionen verlost zu sehen, ohne dass dafür jemand etwas leisten muss – doch ihr Wert sinkt eben auch mit dem Schwinden des Leistungskriteriums. Verblüffungen solcher Art hält das Buch öfter bereit, das begründet seinen aufklärerischen Wert. Was wäre, verteilte man knappe Blutkonserven zufällig, statt medizinische Erwägungen zugrunde zu legen? Befürworter dieser Vorgehensweise rechnen mit einem sprunghaften Anstieg an Blutspendern:

"Denn wenn die gesellschaftliche Elite inklusive Spitzenpolitikern, Medizinern und den Verantwortlichen im Gesundheitswesen aufgrund der Anonymität des Loses nicht mehr sicher sein kann, dass für sie und ihre Angehörigen im Bedarfsfall genügend Blutkonserven oder Organe bereit stehen, würde ein erheblicher Druck auf die eigene Spendebereitschaft von Blut etc. (...) die Folge sein."

Theoretisch ist eine Loswelt weder ungerechter noch gerechter als unser heutiges System, sondern bildete nur andere Verhaltensweisen aus. Moralische Prinzipien müsste sie auf andere Weise finden, das bleibt keiner Gesellschaft erspart; Verfahrenstechniken ersetzen nie normative Anstrengungen. Damit verliert die Loswelt, aus der bizarren literarischen Überzeichnung geholt, ihren Schrecken:

"Warum sollen Menschen nicht in der Lage sein, Losverfahren gegenüber eine genauso pragmatische Haltung einzunehmen, wie gegenüber anderen Allokationsmethoden?"

... fragt Hubertus Buchstein zurecht. So versucht er, der verhandlungsorientierten "deliberativen Demokratietheorie" eine "aleatorische" Variante an die Seite zu stellen. Konkret könnte das bedeuten, einen "Minipopulus" aus 1000 Bürgern auszulosen, der neben den gewählten politischen Organen Mitspracherechte besäße. Ebenso naheliegend: eine zweite Parlamentskammer aus Zufallsabgeordneten in der EU.

"Ein solches europäisches 'House of Lots' (...) sollte aus 200 Mitgliedern bestehen, welche analog zur (dann) Ersten Kammer nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität die Bürger der Europäischen Union repräsentieren sollten. (...) Es geht bei der Idee der Loskammer um bessere Gesetze, nicht um besseres Personal."

Das wäre ein Schritt nach vorne, um den europäischen Koloss beweglicher und bürgerfreundlicher zu machen. Allein: Buchstein, ganz Vernunftmensch, wiegelt gleich wieder ab:

"Machen wir uns keine Illusionen: Um der Lotterie in modernen Demokratien mehr Raum geben zu können, bedarf es eines gesellschaftlichen Mentalitätswechsels bezüglich der Akzeptanz des 'Zufälligen'."

Wahrscheinlich lässt es sich noch zugespitzter sehen: Nicht die Angst, dass der Falsche zum Zuge kommt, blockiert die Aussichten politischer Lotterien, sondern die Angst, dass es der Richtige sein könnte. Wenn er durch seine Qualitäten bewiese, dass die Gewählten zuvor die Falschen waren, haben sie keine Zukunft mehr ... und das wird sie dauerhaft motivieren, sich der Loswelt entgegenzustellen. Tröstlicherweise liefert dieses grandiose Werk von Hubertus Buchstein den Beleg dafür, dass uns – wenigstens theoretisch – noch lange nicht die Optionen ausgehen. Es braucht nur Mut, sie zu verwirklichen.

Hubertus Buchstein: Demokratie und Lotterie
Campus Verlag
Hubertus Buchstein: "Demokratie und Lotterie"
Hubertus Buchstein: "Demokratie und Lotterie"© Campus Verlag