Das philosophische Bestiarium

Der Löwe – König der Traumbewältigung

Zeichung von Nora Haakh für die Serie "Philosophisches Bestiarium"/Sein und Streit - Löwe
Dass Löwen träumen, ist unbestritten. Bis zu 25 Prozent ihrer Schlafzeit verbringen sie in der REM-Phase, genauso viel wie wir Menschen. © Nora Haakh
Von Florian Werner · 22.07.2018
Obwohl er vor allem faul ist und gern schläft, gilt der (männliche) Löwe als "König der Tiere". Wie geht das zusammen? Florian Werner hat eine Antwort auf diese Frage gefunden, mithilfe von Slavoj Žižeks Essay zu Freuds Traumdeutung.
Nachdem König Richard I. sich während des Dritten Kreuzzugs durch besondere Tapfer- und Grausamkeit ausgezeichnet hatte, erhielt er den Beinamen "Löwenherz". Als der Shakespearesche Macbeth den drei Hexen auf der Heide begegnet, raten sie ihm: "Sey muthig wie ein Löwe". Und als der Reggae-Sänger Bob Marley knapp 400 Jahre später nach einem Wappentier für seinen revolutionären Geist suchte, wählte er zielsicher den alttestamentarischen "Löwen von Judah":
"I'm gonna be iron
Like a lion
In Zion…"
Schon diese drei willkürlich an der Mähne herbeigezogenen Beispiele zeigen: Der Löwe gilt zum einen in gut monarchistischer Metaphorik als 'König der Tiere' und zum anderen als Inbegriff des Kampfgeists und der Kühnheit. Das ist insofern erstaunlich, als das Bild, das vor allem männliche Exemplare dieser Gattung dem Zoobesucher vermitteln, ein völlig anderes ist. Im Löwenkäfig sieht man meist nichts weiter als einen schnarchenden Haufen aus sandfarbenem Fell, dessen heroischste Handlung darin besteht, gelegentlich die Glieder zu recken und in Richtung der Betrachter durch das Gitter zu urinieren.

Etwa 20 Stunden Schlaf pro Tag

Auch wenn dieses wenig majestätisch anmutende Verhalten der Käfighaltung geschuldet sein dürfte – fest steht: Löwenmännchen sind, im Zoo wie in freier Wildbahn, ausgesprochen faul. Um die 20 Stunden pro Tag verbringen sie damit, im Schatten zu liegen und am Savannenboden zu lauschen. Ist ihr heldenhafter Ruf überhaupt gerechtfertigt?
Nun, womöglich beruht der Heroismus der Löwen gerade hierauf: auf ihrem gesunden Schlaf und den damit einhergehenden Träumen. Wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in einem Essay zu Sigmund Freuds Traumdeutung argumentiert, besteht die Traumarbeit nämlich nicht etwa darin, einen ins Unbewusste verdrängten Wunsch 'Wirklichkeit' werden zu lassen – ganz im Gegenteil:
"Darin liegt das Paradox der Traumarbeit: Wir wollen einen bestimmten drängenden, aber beunruhigenden Gedanken, dessen wir uns völlig bewusst sind, loswerden; also verzerren wir ihn, übersetzen ihn in die Hieroglyphen des Traums."
Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek auf einer Pressekonferenz, bevor er im Madrider Museum Reine Sofia eine Rede über Tod und Wiederauferstehen des Faschismus hält.  
"Wach sein ist feige": Der Traum sei unerträglicher als die äußere Wirklichkeit, meint der slowenische Philosoph Slavoj Zizek.© Santi Donaire / Imago / EFE
Diese "Hieroglyphen", so Žižeks Pointe, sind nun aber oft erschreckender als die Erlebnisse und Gedanken des Tages, die sie verarbeiten sollen: Sie sind "viel unerträglicher als die äußere Wirklichkeit". Wir wachen also nicht etwa auf, weil wir von der kalten Realität aus süßen Träumen gerissen werden – nein: Wir wachen auf, um dem Grauen unserer Träume zu entfliehen. "Wach sein", schreibt Žižek, "ist feige".
"Darin liegt die große Lehre von Freuds Traumdeutung: Die Wirklichkeit ist etwas für diejenigen, die den Traum nicht aushalten können."

Mannhaft gähnen und den nächsten Traum in Angriff nehmen

Leider wissen wir nicht, wovon Löwen den lieben langen Tag träumen – und da uns nicht nur ihre gutturale "Sprache", sondern auch ihre Lebenswelt fundamental fremd ist, werden wir es wohl nie erfahren. Wie Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen bemerkte: "Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen."
Aber: Dass Löwen träumen, ist unbestritten. Bis zu 25 Prozent ihrer Schlafzeit verbringen höhere Säugetiere in der REM-Phase, genauso viel wie wir Menschen. Bis zu fünf Stunden täglich beschäftigt sich das wackere Löwenmännchen also mit der Traumarbeit, entziffert die entsetzlichen Hieroglyphen seiner Träume, stellt sich seinen Dämonen. Andere, furchtsamere Tiere würden in die Wachwelt entfliehen – nicht so der König der Tiere. Er gähnt nur einmal mannhaft und dreht sich dann tollkühn auf die andere Seite.
Eine beneidenswerte Fähigkeit. Und: Ein Trost für alle Menschen, die gerne etwas länger auf dem faulen Pelz liegen bleiben. Sie können mit Fug und Recht von sich behaupten: Ich schlafe nicht – ich kämpfe wie ein Löwe.

In einer neuen Serie erzählt "Sein und Streit" philosophische Tiergeschichten. Vom schatzsuchenden Maulwurf ist hier die Rede, von der sinnwebenden Spinne und vom unheimlich-vertrauten Wolf.

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