Das Original

Von Ruth Rach · 01.01.2010
Den Namen der Zeitung, die vor 225 Jahren erstmals in London erschien, kennen heute nur noch Experten: "The Daily Universal Register". Dennoch wurde das Blatt für Zeitungen in aller Welt zum Vorbild und zum Taufpaten, allerdings mit dem Namen, den es drei Jahre später annahm: "The Times".
Mike Mazzoni, ein Rentner, in London geboren und aufgewachsen, lebt seit fünf Jahren in der Bretagne. Aber ein Ritual lässt sich der Exilbrite nicht nehmen:

"Ich kaufe jeden Tag die 'Times', obwohl das Blatt dreieinhalb Mal so viel kostet wie in London. Und obwohl ich die neue Klatschspalte nicht leiden kann."

Mike stammt aus einfachen Verhältnissen. Als junger Mann hat er die "Times" nicht angerührt, sie galt als prätentiös, stand für Gentlemen mit Schirm und Melone. Nicht umsonst hieß ihr damaliger Slogan: Top people take the Times.

"Inzwischen ist die 'Times' zur besten Boulevardzeitung abgestiegen. Aber für mich ist sie immer noch die 'Times'. Eine ganz besondere Zeitung."

Was würde ihr Gründer John Walters wohl heute zur "Times" sagen, wenn er das Hauptquartier von News International in Wapping, Ostlondon besuchen würde. Dort wird die "Times" unter dem Banner des Medienzars Rupert Murdoch aufgelegt, sozusagen auf Tuchfühlung mit der sensationslüsternen "Sun".

Nick Mays, "Times"-Archivar, zeigt die Urausgabe vom 1. Januar 1785: Ein großformatiges Doppelblatt aus geschöpftem Papier, am oberen Rand der Titelseite prangt das Wappen von König Georg dem Dritten und der Name "The Daily Universal Register", wenige Jahre später in "The Times" umbenannt. Rechts eine lange Grundsatzerklärung mit hehren Zielen:

"Nichts soll jemals erwähnt werden, was das Ohr des Zartgefühls verwunden, das Herz verderben oder die arglose Unschuld vom Pfad der Tugend verleiten könnte."

Über Jahrhunderte blieb das klassische Layout der "Times" erhalten: Kleinanzeigen auf der ersten Seite. Und keine Bilder! Im Innenteil Leserbriefe und Nachrichten: über den Schiffsverkehr, die Tide, den Preis von Lagerbeständen. John Walters war Geschäftsmann, sein Blatt richtete sich zunächst an Kaufleute.

Graham Stewart ist der Historiker der "Times". Viel Geld hat das Blatt nie gemacht, sagt er, ganz im Gegenteil fährt es schon seit über 100 Jahren Verluste ein. Keine andere Zeitung habe ein so weit gespanntes Netz erstklassiger ausländischer Korrespondenten, das koste viel Geld.

"Überlebt hat die 'Times' dank einer Reihe wohlhabender Besitzer, die sich gerne mit einer so angesehenen Zeitung schmücken wollten. Fotos wurden erst in den 60er-Jahren auf die Titelseite gesetzt, um mit dem neuen Medium Fernsehen zu konkurrieren. Die vielleicht hellste Sternstunde war die Hochzeit von Prinzessin Diana und Prinz Charles: Nur die 'Times' schaffte es damals, sogleich ein Farbfoto zu drucken, eine Sensation!"

Im Korridor zeigt Graham Stewart Titelblätter aus der ferneren Vergangenheit:

"Anarchisten auf dem Trafalgar Square - 1893". "Tod der Königin - 1901". Und "Zeppelin Angriff auf London - 1915". Sowie ein Werbespruch aus den 60er Jahren: "Wenn die 'Times' spricht, hört die Welt zu".

Weniger gerne erinnert man sich bei der "Times" an eine Panne in den 80er-Jahren.

"1983 hat die 'Times' dem 'Stern'-Magazin die Rechte für die angeblichen Hitler-Tagebücher abgekauft, obwohl es sich nicht einmal um eine besonders gute Fälschung handelte."

Die wohl größten Schlagzeilen machte die "Times" allerdings drei Jahre später, als ihr frischgebackener Besitzer Rupert Murdoch den Druckereigewerkschaften den Kampf ansagte und von der Fleet Street in die Docklands nach Wapping umzog. Die Gewerkschaften hatten sich geweigert, technologische Neuerungen zu akzeptieren.

"Das Gebäude wurde elf Monate lang von wütenden Arbeitern belagert, bevor sie schließlich kapitulierten. Das Ergebnis: ein beschleunigter, zuverlässiger Druckprozess, in voller Farbe, und eine dreimal so dicke Zeitung."

Die anderen Blätter zogen nach. Auch im buchstäblichen Sinne. Früher war die Fleet Street für die endlosen alkoholisierten Lunches ihrer Journalisten berüchtigt. Auch damit ist es endgültig vorbei, erzählt Graham Stewart mit einem Anflug von Nostalgie. Und wie steht es um die Zukunft der "Times"?

"Mit Qualitätsjournalismus kann man kein Geld machen. Die 'Times' fährt weiterhin Verluste ein, auch die anderen Zeitungen kämpfen. Wir haben keine andere Wahl, als künftig für Internetnachrichten Gebühren zu erheben. Nur so können die Zeitungen überleben."