Das Opfer einer Frau

Von Christoph Leibold · 21.11.2009
Vor rund 2500 Jahren schrieb der griechische Dichter Euripides das Stück "Alkestis", in dem sich eine Frau aus Liebe zu ihrem Mann für dessen Unsterblichkeit opfert. Am Münchner Residenztheater bringt Dieter Dorn das Stück auf die Bühne.
Kunstnebel wabert über die bis zur weiß getünchten Brandmauer aufgerissene Bühne, als der Vorhang sich hebt. In der Mitte der ansonsten leeren Spielfläche steht ein Klotz mit Ecken und Kanten wie ein kubistisch verfremdetes Gebäude – das Haus des Königs Admetos, ziegelrot und fensterlos, von Ferne an Architektur im Nahen Osten erinnernd. Der schwermütige Gesang einer Frauenstimme erfüllt den Raum – als wär’s ein Märchen aus tausendundeiner Nacht.

Tatsächlich hat Euripides "Alkestis", zumindest so wie Dieter Dorn das Stück am Münchner Residenztheater inszeniert hat, etwas von einem Märchen: Die Ereignisse sind grausig, aber das Ende ist gut. Es war einmal Admetos, der gewährte Apoll Gastfreundschaft, worauf der Gott sich revanchierte und Admetos vom Tode befreite. Wozu Ademtos allerdings jemanden finden musste, der willens war, für ihn in den Hades zu gehen. Admetos Eltern, obwohl schon sehr betagt, lehnten ab, doch dann erklärte sich Ademtos Frau Alkestis bereit, an seiner statt in den Tod zu gehen.

Am Münchner Residenztheater ist Sybille Canonica die Alkestis. Sie trägt ein weißes Kleid, das an ein Brautkleid erinnert - und tatsächlich: Am Ende wird Alkestis ihrem Gemahl ja gewissermaßen ein zweites Mal zugeführt, nämlich nachdem sie Admetos tatkräftiger Freund, der Held Herakles, dem Tod entrungen hat. Ein Kleid, das ihr aber auch die Aura des unschuldigen Opferlamms verleiht. Was Sibylle Canonica vom Typ her freilich so gar nicht ist. Sondern: Eine stolze Erscheinung, herb im Auftreten, mit klarer, kantiger Diktion. Dazu kommt ein hoch artifizielles Spiel, mit weit ausholender Gestik: Und: ein hoher Tragödien-Ton, der allerdings stark affektiert wirkt und pathetisch fruchtbar hohl tönt.

Den Admetos spielt Michael von Au, an sich keine verkehrte Besetzung. Von Au hat ein Faible für die windigen, kleinmütigen Typen. Sein Admetos zählt definitiv dazu. Als Alkestis Tod naht, sorgt er sich vor allem um sich selbst. Von Aus Admetos zerfließt vor Selbstmitleid. Man kann die Rolle durchaus so anlegen. Nur drängt sich dann die Frage auf, wieso sich Alkestis ausgerechnet für diesen windelweichen Jammerlappen opfert? Liebe kann es kaum gewesen sein, da müsste Ademtos, bevor ihm Alkestis das Sterben abgenommen hat, schon ein radikal anderer gewesen sein. Bliebe als Alternative eine besonders perfide Form der Rache: dass Alkestis sich also von einem ungeliebten Mann befreien will und ihn dafür auch noch in Gewissensqualen stürzt, weil sie seinetwegen stirbt. Doch das deutet sich in Dieter Dorns deutungsschwacher Inszenierung allenfalls an. Dorn hat wieder einmal ein Stück arrangiert, ohne erkennbar eigene Zuspitzung.

Es ist durchaus gut, wenn man im Theater keine Antworten bekommt, sondern Fragen aufgeworfen werden. Aber wenn die einzige Frage am Ende einer Aufführung die ist, warum man sich ein zweieinhalb Jahrtausende altes Stück heute noch ansehen soll, dann ist definitiv etwas schief gelaufen.