Das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde schließt die Pforten

Von Thilo Schmidt · 29.12.2008
Nach dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 strömten massenhaft Flüchtlinge in das Notaufnahmelager Marienfelde in West-Berlin: Der Komplex wurde zum Symbol für die Flucht aus der DDR und den Neuanfang im Westen. Mit den Wendewirren 1989/90 kamen erneut DDR-Bürger in Scharen, die letzten verließen das Lager 1993. Danach diente es als Aufnahmestelle für Aussiedler. Zum Jahresende wird es geschlossen.
Für über eine Million Flüchtlinge und Aussiedler aus der DDR-Bürger war es die erste Station im Westen, in der neuen Heimat: Das Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde. Heute ist es ruhig in dem von Dutzenden dreigeschossigen Blocks umschlossenen Innenhof.

Bettina Effner: "So sieht’s aus."

Thilo Schmidt: "Beschaulich …"

Bettina Effner: "Ja. Mittlerweile ja …"

Im ehemaligen Verwaltungstrakt ist seit 2005 die "Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde" untergebracht. Deren Leiterin Bettina Effner:

"Ich glaube, interessant ist schon, dass man sich eben für diese Wohnblockbebauung entschieden hat, das hat ja hier den Charakter einer Siedlung des sozialen Wohnungsbaus in den Fünfzigerjahren. Das war auch wirklich so gewollt, weil man die Menschen nicht in Baracken bringen wollte. Und so fügt sich das also als richtige kleine Siedlung in die Siedlung hier in Marienfelde ein…"

Bettina Effner führt durch die Ausstellung und harmoniert mit dem Ortsbild von Marienfelde im Süden Berlins. Aus einem Notaufnahmelager mit angeschlossener Gedenkstätte wird nun eine Gedenkstätte und eine leerstehende Bundesimmobilie, von der keiner weiß, wie es mit ihr weitergeht.

"Was uns ein wenig beruhigt, weil das ja unser historischer Ort ist, mit dem wir auch weiterhin arbeiten wollen, ist die Tatsache, dass dieses gesamte Gelände unter Denkmalschutz gestellt worden ist. Also, wir fürchten jetzt nicht, dass etwa Gebäudeteile abgerissen werden oder dass dieses Gebäudeensemble komplett sein Gesicht verändern könnte …"

Ein Block in Marienfelde beherbergt auch in Zukunft die Erinnerungsstätte - inklusive einer originalgetreu rekonstruierten Flüchtlingswohnung.

"So sah es in den 50er-Jahren aus. Der Boden ist noch der Originalbelag, die Grundrisse sind es auch, das Mobilliar ebenfalls, diese Doppelstockbetten aus Metall, die da sehr typisch waren, einen Schrank, ein Spind, in jedem Zimmer noch ein kleiner Tisch mit zwei, drei Stühlen als Sitzgelegenheit .. und mehr war dann in den Räumen auch nicht."

Weit draußen, in der Berliner Peripherie liegt das Notaufnahmelager. Die Schauspieler Manfred Krug und Winfried Glatzeder saßen hier, die Schriftstellerin Julia Franck auch. Sie alle kamen aus der DDR. Als Berlin noch geteilte Stadt war, haben sich Geheimdienstler für das Lager interessiert. Darüber geben in der Erinnerungsstätte Zeitzeugen-Interviews Auskunft.

Auch DDR-Agenten haben sich im Auffanglager Marienfelde eingeschleust, auch das ist lange her. Einige der Flüchtlinge und Aussiedler, die das Lager seit Mitte der 90er -Jahre aufnahm, sind hingegen im Viertel geblieben. Nelli Stanko, die aus Russland kam, hat sogar ihr Büro im Aufnahmelager - noch: Sie leitet die Beratungsstelle für die Aussiedler:

"Das ist schon so ein besonderes Gefühl, ich bin selber 1992 als Aussiedlerin gekommen, und hab auch in dieser Einrichtung erstmal als Aussiedlerin gewohnt, das heißt so zwei Rollen mischen sich da ein wenig. Es ist ein bisschen ein trauriges Gefühl, weil es ist eine schöne Zeit hier gewesen. Wir haben, denke ich, versucht, hier eine gute Arbeit zu leisten für Aussiedler, die im Land Berlin aufgenommen wurden, und wenn man jetzt bedenkt, dass es geschlossen wird, ist ein bisschen schon traurig."

Die letzten 60 russlanddeutschen Familien müssen das Lager zum Jahresende verlassen und in Wohnungen und Heime ziehen.