Das Nebeneinander des russischen Volkes

Von Bernhard Doppler · 20.07.2012
Seit seiner Eröffnung kooperiert das Festspielhaus Baden-Baden mit dem St. Petersburger Marinskij-Theater. Jetzt galt die Zusammenarbeit der ersten Fassung von Mussorgski Oper "Boris Godunow": Eine Choroper - aufgesplittert in viele Individuen: Solisten und Chor lassen keine Wünsche offen.
Seit seiner Eröffnung kooperiert das Festspielhaus Baden-Baden mit dem St. Petersburger Marinskij-Theater unter Valery Gergiev und hat dabei in dieser Zusammenarbeit das klassische russische Opernrepertoire kontinuierlich erweitert oder neu erforscht.

Nun galt die Zusammenarbeit der ersten Fassung von Modest Mussorgski Oper "Boris Godunow", dem "Ur-Boris" - analog zu Goethes "Urfaust" -, den Mussorgski nicht aufführen durfte und den er dann für die Uraufführung 1874, fünf Jahre später, zu einem fast doppelt so langen Operndrama umarbeitete, dem "Original-Boris" - Original, weil "Boris Godunow" - später dann meist im Umarbeitungen von Rimskij-Korsakow oder Schostakowitsch aufgeführt wurde.

Beide Borisse, "Original-Boris" und "Ur-Boris", sind zurzeit im Repertoire der St. Petersburger Oper. Man kann also vergleichen. Dabei wirkt der "Ur-Boris" paradoxerweise viel moderner, viel näher dem 20. Jahrhundert als die späteren Weiterentwicklungen und Bearbeitungen. Sieben sarkastische, völlig verschiedene Szenen aus der kurzen "Zeit der Wirren" nach dem Tod Iwan des Schrecklichen um 1600: Terror, Hungersnöte, Volksaufruhr, Manipulationen: in der Duma, in der Schenke, im Kloster, auf dem Platz vor dem Kreml, in den Gemächern des Zaren.

Dem Volk werden Lobgesänge auf den Bojaren Boris eingetrichtert, der Geheimschreiber der Duma beschwichtigt in weihevoller Ansprache, Bettelmönche schlüpfen im Bordell an der Grenze zu Litauen unter, und in der Familie des Zaren ist Trauer und Frivolität nahe beieinander; Wacheln riegeln das Volk von den Politikern ab, nur einer der von der Polizei des Platzes verwiesenen "Vagabunden", der "Schwachsinnige" erweckt ein wenig Nachdenklichkeit beim Zaren. Im "Ur-Boris" gibt es jedoch keine Liebesgeschichte, keine große Frauenrolle - wie später Marina, die Geliebte des falschen Dimitrij -, sondern viele, oft nur kurz angeschnittene Charaktere.

Eine Choroper - aufgesplittert in viele Individuen. Die neunzehn Solisten und der Marinskij-Chor lassen keine Wünsche offen, eine Oper der Dialoge, auch wenn man nicht Russisch versteht. Unter Valery Gergjew klingt Mussorgskis Musik warm, oft auch pathetisch - und trotzdem voll intellektuellem Witz, manchmal glaubt man Schostakowitsch vorweggenommen zu hören.

Die Simultanität des Geschehens unterstützt freilich vor allem die Szene von Stuart Nunn - ein surrealer Raum, der Parlament, U-Bahn-Station, Wohnung sein kann - und die Inszenierung von Graham Vick. Ohne platt zu aktualisieren, hat er das Geschehen ins 21. Jahrhundert verlegt: Auch der Mönch im Tschudow-Kloster recherchiert die russische Geschichte selbstverständlich auf dem Laptop.

Allein das Ankleiden des Krönungsmantels - für den fülligen Boris-Sänger Nikolai Putilin ist er etwa schmal - wird fast ins Komische kippend ausgespielt. Für das Ensemble des Marinskij-Theaters mag die Arbeit mit Graham Vick ungewohnt gewesen sein, doch jedes einzelne Chormitglied - auch wenn es im Hintergrund steht - erzählt eine eigene Geschichte: Da flirtet, wenn man genau hinsieht - etwa die Wache mit einer Demonstration, da holt ein anderer plötzlich aufgeregt sein Handy hervor ...

Auch die Politiker in der Duma sind ziemlich unterschiedlich, sie haben ja auch bei Mussorgski ganz unterschiedliche, meist eher dümmliche Ansichten und sind kein Einheitschor. Der Simultanität von Mussorgski kommt Vicks Detailversessenheit entgegen. Und man wundert sich, wie sehr die "Zeiten der Wirren" um 1600 die russische Gegenwart 2012 zu spiegeln scheinen; oder anders gesehen, wie sehr schon im 19. Jahrhundert - kritisch kommentierend und gleichzeitig berührend - das unvermittelte Nebeneinander einer Gesellschaft in einer "Volksoper" vorgeführt und bilanziert wurde.
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