Das muss man 2016 gehört haben (5)

Das beste Klassikalbum

Das Ensemble Concerto Köln
Total entfesselt, lebendig, klangsinnlich: die "Vier Jahreszeiten" vom Concerto Köln © Harald Hoffmann
Von Claudia Dasche · 16.12.2016
Hunderte Male sind Vivaldis "Vier Jahreszeiten" aufgeführt und eingespielt worden. Ein musikalisches Martyrium in Endlosschleife. Die Aufnahme von Concerto Köln ist aber so voller Freiheit und Spontanität, dass wir sie zum Klassik-Album des Jahres gekürt haben.
Was haben die vier Jahreszeiten im echten Leben mit den musikalischen Antonio Vivaldis gemeinsam? Auf ihr Kommen ist Verlass, Jahr für Jahr. Allerdings mit dem kleinen Unterschied: Die Natur schenkt uns jede nur einmal pro Jahr; Platten und Konzertmanagements zeigen sich da wesentlich großzügiger, sodass selbst wohlwollende Fans, mich eingeschlossen, langsam zu Frühlings-Sommer-Herbst und Winterdepressionen neigen.

"No risk, no fun"

Hunderte Male aufgeführt, eingespielt, aufgeführt und eingespielt. Endlosschleife eines fast schon musikalischen Martyriums, dachte ich ziemlich erbost, als erst letzten Oktober schon wieder "The Four Seasons" auf meinem Schreibtisch landeten. Trotz Produktion eines meiner Lieblingsensembles – Concerto Köln, über dessen Qualitäten man ja keine Worte mehr zu verlieren braucht – habe ich sie wochenlang in eingeschweißter Verpackung schmoren lassen. Aber: Die Neugier ist ja dem Menschen in die Wiege gelegt, zum Glück.

Atemberaubende, fast unerträgliche Spannung

"No risk, no fun" - getreu dem Motto, das die Ensemble-Musiker für sich genauso wie fürs Publikum geltend machen, haben sie ihre Erkundung der Jahreszeiten mit spezieller Mikrofonierung, sozusagen in einem Ritt, ohne jeglichen Schnitt vorgenommen. Also keine Wiederholungen, keine Auswahl der gelungensten Tracks, kein Kleben am Notenpapier. Stattdessen Freiheit, Spontanität, Improvisationslust, so, wie es zu Vivaldis Zeiten usus gewesen sein muss.
Und das Ergebnis ist frappierend, was im Notentext tatsächlich steckt, vor allem, was man aus ihm rausholen kann. Wo bei etlichen Aufnahmen, im Winter zum Beispiel, das Klangbild eines behäbig-opulent knisternden Kaminfeuers suggeriert wird, mit taktgenauen Fünkchen, was eher an Silvester-Tischfeuerwerk erinnert.
Während bei vielen Einspielungen von Vivaldis Sommer, allein aufgrund starker Besetzungsreduzierung, lediglich ein schlappes Gewitterchen erzeugt wird - oder durch Überschreitung des Tempolimits Kugelblitze zu erschlagen drohen - bietet diese Einspielung: eine atemberaubende, fast unerträgliche Spannung, die nach großer Hitze auf das erlösend-reinigende Gewitter warten lässt.

Einfach phänomenal

Total entfesselt, lebendig, klangsinnlich und trotzdem so reflektierend wie diese Einspielung habe ich schon lange keine Jahreszeiten erlebt. Recht hat er, der Marcel Proust, wenn er schreibt: "Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen, sondern Altes mit neuen Augen zu sehen." In diesem Fall mit neuen Ohren zu hören. Und was ich in dieser Hinsicht nicht mehr für möglich gehalten habe, ist Concerto Köln phänomenal gelungen.
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