Das Menschenrecht ist auch ein Erbe der Nürnberger Prozesse

Moderator: Dieter Kassel · 20.07.2005
Hans-Peter Kaul ist der einzige deutsche Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Er hat selbst für die Einrichtung der Institution gekämpft. Staatliche Souveränität und Immunität könnten seit Nürnberg nicht mehr wie früher als Schutzmauer missbraucht werden, betonte er vor dem Hintergrund einer Konferenz anlässlich des 60. Jubiläums der Nürnberger Prozesse.
Dieter Kassel: Herr Kaul, gerade haben wir in unserem Beitrag gehört, dass beispielsweise beim Jugoslawien-Tribunal es auch sehr wichtig gewesen ist, den Opfern eine Stimme zu geben und das Grauen zu dokumentieren. Spielt das auch eine große Rolle bei der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs?

Hans-Peter Kaul: Ja. Unser Recht, welches wir anwenden müssen, wird den Opfern erstmals eine anerkannte Teilnahme an den Strafverfahren geben. Es wird Vertreter der Opfer geben, die zum Beispiel Kreuzverhöre durchführen können, und wir haben in unserem römischen Statut auch sogar eine Rahmenvorschrift, die es erlaubt, den Opfern Entschädigungen zukommen zu lassen. Das wird dann eine Frage sein, wie viel Geld vorhanden ist, wie viel Geld auch von den Tätern zu erlangen ist. Aber klar, die Antwort ist eindeutig, der Internationale Strafgerichtshof erkennt den Opfern eine weitgehende Beteiligung zu.

Kassel: Nun haben Sie schon die Täter erwähnt. Viele Menschen verstehen immer noch nicht so recht, warum manche in Den Haag landen und in Zukunft landen werden und manche nicht. Welche Voraussetzung muss denn gegeben sein, damit Sie überhaupt rechtlich zuständig sind und jemanden anklagen können?

Kaul: Das Gericht ist nur zuständig für die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffen, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwerste Kriegsverbrechen. Es kann auch nur dann überhaupt tätig werden, wenn nationale Strafrechtssysteme nicht willens oder nicht fähig sind, diese Straftaten zu verfolgen. Der Internationale Strafgerichtshof ist also eine Art von Reservegerichtsbarkeit, wenn entweder Täter von Vertragsstaaten diese Verbrechen begehen oder diese Verbrechen auf dem Territorium einer Vertragspartei begangen werden.

Kassel: Wenn Sie die Vertragsstaaten erwähnen, dann fällt einem sofort ein, dass es sehr viele sind, aber noch nicht alle Staaten der Welt, und dass es einen großen Staat gibt, nämlich die USA, der kein Vertragsstaat ist. Wie sehr behindert das Ihre Arbeit in Den Haag?

Kaul: Das ist natürlich ein Problem, an dem weiter gearbeitet werden muss. Es ist klar, dass wir langfristig die Unterstützung der USA brauchen. Das gilt sowohl politisch, moralisch, finanziell und materiell als auch personell. Wir brauchen amerikanische Ankläger, und wir brauchen vielleicht sogar eines Tages einen amerikanischen Richter. Es ist richtig, dass die US-Regierung uns ablehnt, aber hier bei diesem Symposion in Nürnberg werden Sie sehen, dass es ein großes Verständnis gegenüber internationaler Strafgerichtsbarkeit gibt, und das begründet die Hoffnung, dass sich die US-Haltung eines Tages auch mal ändern kann.

Kassel: Das bedeutet, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Ihr Eindruck ist, dass zum jetzigen Zeitpunkt die amerikanische Regierung, die Administration den Gerichtshof ablehnt, was ja nicht bedeutet, dass zum Beispiel Juristen in den USA das auch tun.

Kaul: Ich bin dankbar, dass Sie diesen absolut fundamentalen Unterschied machen. Wir haben in den USA Meinungsumfragen, die mehrheitlich den Internationalen Strafgerichtshof unterstützen. Der riesige amerikanische Anwaltsverein mit 400.000 Mitgliedern verabschiedet jedes Jahr neue Resolutionen zur Unterstützung des Strafgerichtshofs. Menschenrechtsorganisationen, Professoren, frühere Nürnbergankläger, alle stehen sie hinter dem Strafgerichtshof, und was die Haltung der USA angeht, von außen kann man diese Haltung schwerlich ändern. Das muss aus der amerikanischen Gesellschaft, aus der amerikanischen Rechtstradition von innen geändert werden.

Kassel: Nun verquicken wir die Konferenz in Nürnberg aus dem Grund "60 Jahre Nürnberger Prozesse" mit der Arbeit, die Sie unter anderem am Europäischen Strafgerichtshof leisten. Es herrscht, glaube ich, Einigkeit bei Juristen und anderen Fachleuten darüber, dass zu einem großen Teil die Nürnberger Prozesse als Vorbild für die Arbeit in Den Haag genommen werden können. Deshalb frage ich mal umgekehrt: Sind damals vor 60 Jahren in Nürnberg auch Fehler gemacht worden, die Sie jetzt tunlichst vermeiden?

Kaul: Wenn Menschen tätig werden, werden Fehler gemacht. Es ist eine unvorstellbar komplexe Aufgabe, mit dem System und Recht eines 80-Millionen-Staates den Verbrechen einigermaßen gerecht zu werden. Nürnberg hat aber dennoch Großes geleistet. Staatliche Souveränität und Immunität können seit Nürnberg nicht mehr wie früher als Schutzmauer missbraucht werden, hinter der Gewaltherrscher und Unrechtsregime wie das Hilter-Regime unbehelligt schwerste Menschenrechtsverletzungen begehen können. Nürnberg hat Klarheit geschaffen, dass die Täter schlimmster Völkermordverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nicht straffrei ausgehen können, sondern im Gegenteil verfolgt und bestraft werden müssen.

Kassel: Seit nun der Strafgerichtshof in Den Haag seine Arbeit aufgenommen hat, sind Sie dort beschäftigt, arbeiten dort als Richter. Das bedeutet doch auch, abgesehen von den komplexen juristischen Vorgängen, dass Sie an jedem Arbeitstag zu tun haben mit unglaublichen Greueltaten, die geschehen sind. Hat Ihre Arbeit in den letzten gut zwei Jahren eigentlich Ihr Menschenbild verändert?

Kaul: Das glaube ich nicht. Es ist sicher, dass einen das nicht unberührt lassen kann als Mensch. Auch die Kollegen vom Jugoslawientribunal erzählen mir immer wieder, dass sie doch, wenn sie spazieren gehen, gelegentlich von solchen Bildern heimgesucht werden. Man muss hierüber mit den Kollegen sprechen, aber das ändert nichts an der Aufgabe, dass man versuchen muss, doch Distanz zu halten und fair und objektiv nach der Wahrheit zu suchen.

Kassel: Sie haben selber viele Jahre als Jurist und Diplomat dafür gekämpft, dass dieser Gerichtshof eingerichtet werden konnte. Nun gibt es den Gerichtshof. Es gibt noch Makel – wir haben über die USA gesprochen, über andere Nachteile –, aber alles in allem, ist für Sie ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen?

Kaul: Noch nicht. Der Lebenstraum ist aus meiner Sicht erst dann erfüllt, wenn wir erstens die Zahl unserer Mitgliedstaaten dahin gebracht haben, dass wir quasi Universalität erreicht haben, zweitens dass wir in einem Jahrzehnt etwa bewiesen haben, dass dieser Gerichtshof tatsächlich funktioniert und dass er einen Beitrag zu mehr internationaler Gerechtigkeit leisten kann, indem er Urteile fällt, die Ausstrahlung haben, und die die Botschaft haben: Wir werden die Täter schwerster Verbrechen künftig nicht mehr unbehelligt lassen.

Kassel: Vielen Dank für das Gespräch!

Service:

Die internationale Nürnberger Konferenz 2005 anlässlich des 60. Jahrestages des Beginns des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher im Gerichtssaal 600 des Justizpalastes in Nürnberg findet vom 17. bis 20. Juli 2005 in Nürnberg statt.