Das Märchen von den brotlosen Laberfächern

Jochen Hörisch im Gespräch mit Joachim Scholl · 28.10.2013
Komplexe Probleme werden auch in Germanistik oder Byzantinistik gelöst, meint der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch. Im Ausland könne man mit einer solchen Ausbildung sogar in der Finanzwelt Karriere machen. Sein Fazit: "Wir brauchen mehr schlaue Geisteswissenschaftler."
Joachim Scholl: Es sollte nicht sein, dass man an der Universität ohne klare Leistung herumsitzt. Das ist ein Zitat aus einem großen Interview, das der frühere SPD-Bildungspolitiker Klaus von Dohnanyi heute der "Süddeutschen Zeitung" gab, und seine Kritik zielt speziell auf die Geisteswissenschaften.

Zu viele Studenten, zu wenig Profil, kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt - junge Leute sollten sich doch lieber überlegen, erst mal ein Handwerk zu erlernen. Einer, der das gemacht hat, ist der Kollege Thorsten Jantschek aus unserer Kulturredaktion.

Er ist gelernter Werkzeugmacher, hat in diesem Beruf auch gearbeitet, um sich dann für ein Studium der Philosophie und Germanistik entschieden. Torsten, wie kamen Sie von der Werkbank in den Hörsaal?

Thorsten Jantschek: Das war eine ganz einfache Entscheidung, denn ach, zwei Seelen schlugen schon immer in meiner Brust. Ich wollte ursprünglich mal Ingenieur werden. Dann kam das Lesen dazu, die Romane erst und dann auch die Philosophen, angeleitet von einem Englischlehrer, und so stand man dann da mit einer Entscheidung im Kopf, soll ich jetzt lieber in die eine Richtung gehen oder in die andere? Ich habe mich dann für die Philosophie entschieden.

Scholl: Wie war das für Sie dann im Studium? Hat Ihnen diese praktische Ausbildung zuvor etwas genützt, auch die Erfahrung im Arbeitsleben?

Jantschek: Ja, in viererlei Hinsicht, würde ich sagen. Nämlich auf der einen Seite hatte ich Geld als Student, weil ich in den Semesterferien immer als Facharbeiter mit einem Facharbeitergehalt arbeiten konnte. Ich hatte überhaupt keine Angst vor der formalen Logik, wie viele meiner Mitstudenten. In der Philosophie ein Pflichtfach.

Es gibt aber auch einen etwas weiter führenden Grund, denn es wogte damals die Debatte um die zwei Kulturen. C. P. Snow war angesagt, zwei Kulturen, die sich gar nicht miteinander verständigen können. Und ich hatte immer den Eindruck, das kann gar nicht sein, das kann doch nicht Status quo sein, auch in den Geisteswissenschaften nicht, dass man nichts mit der Technik zu tun haben kann.

Und mittlerweile hat sich das aufgelöst ja weitgehend, weil sich ja auch Philosophen mit technischen Dingen auseinandersetzen und auch manche Techniker mit philosophischen Fragestellungen. Also diese Übersetzbarkeit und auch eine Skepsis gegenüber diesen rein fachgebundenen Vokabularen, gegenüber den Jargons, die da gepflegt werden. Also Hegelianer, Kantianer, Nietzscheaner und so was. Nee, damit sollte Schluss sein, sondern man muss irgendwie ein gemeinsames Vokabular finden, und das hat mein Studium getragen, zum Beispiel.

Scholl: Mitgehört hat jetzt Jochen Hörisch, Literatur- und Medienwissenschaftler an der Universität Mannheim. Schönen guten Tag, Herr Hörisch!

Jochen Hörisch: Ja, hallo!

Scholl: Mal wieder ein Angriff auf die Geisteswissenschaften, werden Sie sagen, Herr Hörisch, vom Kollegen Dohnanyi. Die gibt es ja regelmäßig, diese Attacken. Hat Herr Dohnanyi aber nicht recht - zu viele studieren diese Fächer, ohne zu wissen, wohin die Reise geht?

Hörisch: Nun ja, ich denke, er hat recht und er hat unrecht. Wir müssen uns ja vergegenwärtigen, dass die schöne alte Zweikulturenthese, die Herr Jantschek auch gerade erwähnt hat, plausibel und unplausibel zugleich ist. Ich will es ganz konkret illustrieren und nicht sozusagen methodisch hoch abgehoben, hegelianisch, kantianisch drum rumreden, sondern sagen: Wir haben das Problem Handysmog.

"Die verlaberten Geisteswissenschaften"
Ja oder nein, ist das gefährlich, wenn wir uns die Dinger allzu häufig an die Ohren halten? Oder wir haben das Problem Sicherheit von Atomkraftwerken. Oder wir haben sehr rechenintensive Fragen, wie man volkswirtschaftliche Probleme lösen muss. Und wenn man denkt, ah, die rechnen, und deshalb ist das die Hard Science, und daneben sind die verlaberten Geisteswissenschaften, dann merken wir, dass wir mit diesem schönen alten Schema eigentlich gar nicht weiterkommen.

Das Verhältnis von Zählen und Erzählen ist noch neu auszutarieren. Und insofern würde ich sagen, wir brauchen mehr schlaue Geisteswissenschaftler und bin insofern gegen Herrn Dohnanyi, und bin mit Herrn Jantschek aber der Meinung, es steht Geisteswissenschaftlern sehr gut an, wenn sie sich auch im Bereich des Zählens auskennen, weil sie dann die richtigen Erzählungen finden können, ausprobieren können, die zu den vielen Zahlen passen.

Scholl: Mehr schlaue Geisteswissenschaftler, da würde Ihnen Herr Dohnanyi, glaube ich, zustimmen. Der sagt nämlich, es müssen bessere Geisteswissenschaftler da sein, die dann auch später im Arbeitsleben auch wirklich was leisten. Ohne klare Leistungen sitzen viele Geisteswissenschaftler an der Universität herum. Wie ist das in Ihren Seminaren? Wie viele Leute hängen da rum, die eigentlich nicht genau wissen, warum sie da sitzen und haben auch eigentlich gar kein richtiges Interesse, wirklich was zu lernen, um später dann mal was einzusetzen?

"Der promovierte Taxifahrer"
Hörisch: Ich will da nicht drum herumreden. Es gibt diesen Typus. Aber zugleich bedient man eben ein Klischee, das ausnahmsweise, anders als viele andere Klischees einmal nicht richtig ist. Wenn man sagt, der promovierte Taxifahrer hatte keine andere Möglichkeit.

Ich will ganz handfest drauf aufmerksam machen, dass Leute wie Thomas Gottschalk oder Günter Jauch studierte Geisteswissenschaftler sind. Oder dass wir einen Finanzminister hatten, Eichel hieß er, der war rhetorisch nicht ganz so ein Kaliber wie die beiden gerade genannten, aber der war Germanist und Deutschlehrer. Und wir gucken uns einen Schirrmacher an oder Karl-Heinz Bohrer. Oder Sie lassen den Blick schweifen, lieber Kollege, und ich wette, dass Sie einigermaßen von Geisteswissenschaftlern umgeben sind in der Medienlandschaft.

Worauf ich aber raus will, ist zu sagen, der Ingenieur und das Genie, wenn die besten Geisteswissenschaftler denn Genie-verdächtig sind, haben sehr viel mehr gemeinsam, als sie jeweils glauben. Jeweils steckt die Silbe "gen" drin, da wird etwas generiert, da wird etwas geschaffen. Und der eine macht das technisch, und das andere macht es mehr oder weniger genial, und die Frage ist, wie diese beiden Seelen, die da in der Brust wohnen, miteinander in ein Gespräch kommen können. Aber genau das müssen sie eben können, und insofern würde ich sagen, mindestens so angemessen wie die Forderung an die Geisteswissenschaftler - werdet technischer - und die Forderung ist angemessen, ist die Forderung an die Techniker, an die Ingenieure, an die MINT-Leute: Merkt ihr nicht, in welch große Erzählungen auch ihr verstrickt seid, die ihr nicht immer richtig durchschaut.

Scholl: Die MINT-Leute, das sind die Mathematiker, die Informatiker, die Naturwissenschaftler und die Techniker, nicht wahr, Herr Hörisch? Das ist die Fraktion, auf der derzeit ein großer Fokus unserer Gesellschaft liegt, weil wir zu wenig Facharbeiter haben. Heute ist gerade eine neue MINT-Studie veröffentlicht worden, die besagt, dass also diese Fächer weiterhin zunehmen.

Ich wollte aber jetzt auch noch mal, Thorsten Jantschek befragen, von unserer Kulturredaktion, gelernter Werkzeugmacher, wie ihm es ergangen ist während des Studiums, wo er natürlich auch mit vielen Kollegen oder mit vielen Kommilitonen zu tun hatte, die eben jetzt keine Ausbildung hatten, sondern einfach vielleicht auch ins Blaue hinein studierten.

Haben Sie sich unterschieden, wussten Sie schon, Herr Jantschek, wo Sie hinwollen? Weil Sie auch sagten, gut, irgendwann muss man auch mal damit Geld verdienen?

Jantschek: Nein. Als Geisteswissenschaftler habe ich mich natürlich erst mal als Geisteswissenschaftler gefühlt und gesagt, also, der Berufswunsch steht erst einmal hintenan. Ich möchte erst einmal mich ausprobieren in Problemlösungen, im Kennenlernen von Vokabularen, von Erzählungen, wie Herr Hörisch sagt.

Denn das ist ja das Handwerkszeug, was man bekommt und das in diesen Debatten immer zu kurz kommt. Ich finde, dass an den Geisteswissenschaften eben auch etwas zu sehen ist, nämlich, dass sie zu Berufen führen, die heute noch keiner kennt.

Bei den Naturwissenschaften erkennt man das automatisch an, da sagt man, na ja, die müssen die Grundfertigkeiten können, dann werden sie irgendwann Ingenieur. Aber sie werden es vielleicht in Bereichen, die wir jetzt noch gar nicht kennen, in fünf Jahren noch nicht kennen. So sagen es jetzt die neuesten Thesen aus Amerika. Und das trifft auf die Geisteswissenschaften auch zu. Wir können analysieren, wir können uns in Vokabulare, in Systeme hineindenken und können die in Anwendung bringen an Orten, die wir jetzt noch gar nicht absehen können. Das ist auch der Sinn von Geisteswissenschaften.

Scholl: Das müsste Herrn Hörisch jetzt sehr gut gefallen haben, nicht wahr?

Hörisch: Ja, so ist es. Ich will ein ganz groß geratenes Beispiel nehmen. Wir gucken uns die volkswirtschaftlichen Diskussionen an, und Sie merken, wie so ein Fach wie die Volkswirtschaft, das aus der politischen Ökonomie kam und also wusste, wie weit es mit großen Erzählungen verschwippschwagert ist, auf Mathematik gesetzt hat.

"Zwei Volkswirte, drei Meinungen"
Da haben die gesagt, was sollen wir da weiter die ideologischen Kämpfe machen. Und wir können doch nicht ernsthaft das Gefühl haben, dass Volkswirtschaftler heute in der Lage sind, durch mathematikintensive Modellrechnungen die großen Fragen zu entscheiden, die uns umtreiben. Sie haben zwei Volkswirte, die können beide glänzend rechnen, und Sie haben drei Meinungen, wenn es darum geht, wie man das Bankensystem stabilisiert, wie man ein gerechtes Steuersystem schafft und dergleichen mehr.

Ich hab bewusst jetzt so ein ganz großes Thema gewählt, wo es ja nun wirklich um Hunderte von Milliarden geht, und Sie merken, Sie müssen die großen Erzählungen, die Ideologien, die dahinterstecken, mithören. Und wenn Sie den Volkswirten mal deutlich machen, wie theologisch ihre eigentliche Grundbegrifflichkeit ist, kommen die vielleicht zur Einsicht. Es geht um Kredit, um Schuldner, um Gläubiger, um Erlöse, um Offenbarungseid und dergleichen mehr. Und natürlich um Wertschöpfung. Und ich glaube, jeder Volkswirt würde sich an den Kopf fassen und sagen, um Gottes willen, ich arbeite mit theologischem Vokabular, daran habe ich nie gedacht.

Und dass wir denen die eigentliche Erlösungsfunktion anvertrauen, das sollten die mal bedenken und mal einen Augenblick die Computer ausschalten und sagen, ich höre mal hin. Und da könnten Geisteswissenschaftler doch behilflich sein.

Scholl: Diese Zweikulturenwelt, die gibt es in anderen Ländern nicht. Vor allem in englischsprachigen Ländern, also in Großbritannien, in den USA hört man immer wieder von Menschen, die Literaturwissenschaft oder Byzantinistik studieren und später an der Wall Street oder in der Londoner City irgendwie große Karrieren machen.

Ich hab zum Beispiel mal einen irischen Chef einer großen Baugesellschaft kennengelernt, der war studierter Literaturwissenschaftler und konnte Joyce rezitieren und ist trotzdem irgendwie ein richtiger kleiner Tycoon geworden. Warum hat eigentlich diese Art von Kultur, diese Übersetzung sozusagen aus einem ja von mir aus Orchideenfach wirklich in die praktische Welt, warum hat das bei uns eigentlich noch nie so richtig gefruchtet? Oder geht das jetzt los?

Hörisch: Es geht los, auch deshalb, weil man ja wirklich überraschende Erfahrungen macht. Ich greife mal Ihr Beispiel auf, die Byzantinistik. Es war ja das allerseltsamste und exotischste aller Orchideenfächer. Und dann hatten wir den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Neuorientierung im südosteuropäischen Raum, und keiner kriegte mehr genau hin, wie war das eigentlich mit Byzanz, und warum streiten sich die Serben, die Griechen, die Türken, die Kroaten so schrecklich miteinander?

Wo laufen die kulturellen Grenzen, wo laufen die Kommunikationsgrenzen. Und auf einmal haben Banken und große internationale Organisationen verzweifelt Byzantinisten gesucht. Die konnten denen nämlich einigermaßen erklären, wie unterschiedlich die Köpfe getickt haben, weil es eben das Schisma Ost-Rom, West-Rom gegeben hat. Insofern ist gerade das Beispiel Byzantinistik Wasser auf meine Mühlen. Aber ich gebe Ihnen in der Sache vollkommen recht.

Wir brauchen als Ausbildungsziel in den Geisteswissenschaften: gescheit sein, helle sein, aufmerksam sein, hinhören können, einen Subtext dechiffrieren können. Das kann auch durchaus mit Techniken - ich bin nicht technikfeindlich, kein bisschen - verbunden sein. Und wir müssen wegkommen von dem alten Modell: Ich hab Germanistik studiert, also werde ich Deutschlehrer.

Gescheit sein als Ausbildungsziel, ich glaube, das könnte eine Gemeinsamkeit sein für Genies und Ingenieure.

Scholl: Über die praktische Anwendung von Geisteswissenschaften. Das waren Jochen Hörisch von der Universität Mannheim und Thorsten Jantschek vom Deutschlandradio Kultur.

Dank Ihnen beiden!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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