"Das Märchen vom letzten Gedanken"

Von Gregor Ziolkowski · 17.05.2005
Den Völkermord, den 1915 Türken an Armeniern verübten, hat Edgar Hilsenrath in seinem 1989 erstmals erschienenen Roman "Das Märchen vom letzten Gedanken" verarbeitet. So grauenhaft ist das Erzählte, dass es den Kunstgriff des Märchenhaften brauchte.
Einen "Holocaust vor dem Holocaust" nannte Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel einmal das Massaker, das 1915 Türken an Armeniern verübten und dem etwa 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen. Bis auf den heutigen Tag – 90 Jahre nach den Ereignissen – weigert sich die Türkei, den damals verübten Genozid anzuerkennen. Unter den Augen einer desinteressierten Welt – der Erste Weltkrieg war im Gange – spielte sich ein grausamer Völkermord ab, und der Gedanke, dass Adolf Hitler dieses Desinteresse sehr wohl kalkuliert hatte, als er wenige Jahrzehnte später zu seinem Vernichtungsschlag gegen die Juden Europas ausholte, ist nicht von der Hand zu weisen.

Wenn es so etwas gibt wie eine Kultur des Erinnerns, dann gehört das Bewusstmachen dieses ersten Vernichtungszuges des 20. Jahrhunderts ganz an den Anfang eines solchen Erinnerns. Edgar Hilsenraths 1989 erstmals erschienener Roman "Das Märchen vom letzten Gedanken" ist eines der herausragenden Beispiele auf diesem Weg des Erinnerns.

"Es gibt eine armenische Weltverschwörung", sagt der türkische Polizeichef während eines Verhörs seines armenischen Gefangenen in diesem Roman, und allein diese Äußerung umgreift den absurden Rahmen, in dem sich die Vernichtungsideologien entfalten, von den "Protokollen der Weisen von Zion" bis zu den ethnischen Konflikten in Jugoslawien. Edgar Hilsenrath zeichnet diesen absurden Hintergrund nach, indem er seinen Roman tatsächlich wie ein Märchen erzählt – als eine schaurige Spukgeschichte, die auf einem orientalischen Basar erzählt worden sein könnte. So unwahrscheinlich, so grauenhaft ist das hier Erzählte, dass es den Kunstgriff des Märchenhaften brauchte, um das Unbegreifliche zu schildern. Genaueste zeithistorische Kenntnisse, die "Übersetzung" komplizierter Zusammenhänge in die Struktur einfacher Szenen und Dialoge, die ans Surreale grenzende Überhöhung der Tatsachen in die Sphäre des Metaphorischen, des Traumhaften, und die kristallklare Sprache des Autors geben diesem Roman seine anhaltende Aktualität.

Edgar Hilsenrath:
Das Märchen vom letzten Gedanken. Roman.
Mit einem Nachwort von Helmut Braun.
Gesammelte Werke, Band 6.
Dittrich Verlag, Köln 2005.