Das Lebensende im Blick

02.03.2009
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James Agees neu herausgebrachter Roman "Ein Todesfall in der Familie" erhielt 1957 den Pulitzer-Preis, und manche mögen in ihm eine Vorahnung des Autors auf seinen frühen Tod im Jahr 1955 entdecken. Es ist ein mit epischer Ruhe geschriebenes Werk über Tod, Verlust und Einsamkeit.
"Ein Todesfall in der Familie" besitzt den Zauber der Langsamkeit. James Agees großer Roman, 1957 posthum erschienen und mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, ähnelt einem breiten, beständig dahin fließenden Fluss.

Agee, Jahrgang 1909, Harvardabsolvent, zu Lebzeiten ein bekannter Schriftsteller, Reporter und Drehbuchautor, entfaltet die stark autobiografisch geprägte Geschichte von Jay Follet mit epischer Ruhe, einem Gespür für Rhythmus und einer Fähigkeit, atmosphärische Schwankungen in Bilder zu fassen. Auf vierhundert Seiten werden ein früher Morgen, ein Nachmittag, eine Nacht, der nächste Morgen und noch ein weiterer Vormittag geschildert.

Der Autor nimmt die Geschehnisse aus mehr als einem Dutzend Augenpaaren und drei verschiedenen Generationen in den Blick. Noch im Dunkeln schrillt das Telefon - Jays Bruder Ralph ruft an, um Jay von einem schweren Herzanfall des Vaters zu berichten. Es sei nicht sicher, ob der Vater diesen Anfall überleben werde.

Jay kleidet sich sofort an und will aufbrechen, obwohl er weiß, dass sein Bruder, ein schwacher Mensch mit einer Neigung zu Whiskey, kein verlässlicher Auskunftgeber ist. Seine Frau Mary bereitet ihm noch ein Frühstück. Sie können sich nur schwer voneinander trennen - aber am Abend wolle er wieder zurück sein, verspricht Jay.

Dann weitet James Agee den Blick und schildert die Autofahrt bis in den Heimatort, wo die Familie am Bett des Vaters zusammengekommen ist. Nun tritt der Bruder Ralph in den Vordergrund, unsicher und weinerlich, zerfressen von Minderwertigkeitsgefühlen.

Schließlich erleben wir Mary selbst, ihre Kinder Rufus und Catherine, ihre Tante Hannah. Auch der zweite Teil des Romans beginnt mit einem Telefonklingeln: Mary nimmt ab und erfährt, dass Jay einen schweren Unfall erlitten habe. Nun stehen ihr Zustand, das angstvolle Warten auf Nachricht, schließlich die Botschaft von Jays Tod, ihre Reaktion und die Reaktionen ihres Vaters, ihrer Mutter und ihres Bruders im Mittelpunkt.

Der dritte Teil ist der Totenwache und der Beerdigung gewidmet. Wieder gleitet die Erzählerstimme von Figur zu Figur. Besonders eindringlich ist hier die Perspektive des siebenjährigen Rufus: Für die Kinder sind die Vorkommnisse ein Rätsel. Tiefe Verlorenheit wechselt mit Sehnsucht nach dem Vater und einem inneren Stolz, dass etwas ganz Besonderes geschehen ist.

Der Roman hat die Form eines Triptychons und erinnert auch in seiner universalen Anmutung an ein Altarbild: das Schicksal der Familie wird zum Ausdruck einer exemplarischen Erfahrung von Tod und Leiden.

Faszinierend an "Ein Todesfall in der Familie" ist einerseits diese epische Gestaltungskraft, zugleich aber auch die panoramatische Form und Zersplitterung der Erzählperspektive. Jeder erlebt den Verlust des Ehemannes, Vaters, Sohnes, Schwiegersohnes und Freundes für sich allein, und jeder ist auf seine Weise einsam.

Durch markante Eigenschaften - die Schwerhörigkeit der alten Mutter von Mary, Marys Frömmigkeit, die ungestüme Kraft des Vaters, die Mischung aus Schüchternheit und Geltungsdrang von Rufus - entwickelt das Personal eine große Plastizität. Agee ist ein Schriftsteller, der Gefühlsregungen in ihrer Widersprüchlichkeit vermittelt und die Schattierungen von Zuneigung, Hass, Wut, Trauer erkundet.

Er tastet die Oberfläche der Gespräche ab und bringt gleichzeitig die untergründigen Strömungen zum Ausdruck: wie Rufus zum Beispiel den Klang der Stimme seiner Mutter bei der Todesnachricht interpretiert und mit seiner Antwort auch das Ungesagte zu beantworten versucht.

Vor allem die lyrischen Passagen, oft Erinnerungen, die Rufus von seinem Vater bewahrt, strahlen etwas Zeitenthobenes aus. Bilder und Vergleiche verstärken diesen Charakter. Das Wissen um den eigenen Tod - Agee starb 1955 noch vor der endgültigen Fertigstellung seines Manuskripts mit nur 46 Jahren - scheint dem Roman eingeschrieben zu sein.

Rezensiert von Maike Albath

James Agee, Ein Todesfall in der Familie
Aus dem Amerikanischen von Gerda von Uslar, Überarbeitet von Ingo Herzke
C. H. Beck, München 2009
400 Seiten, 19,90 Euro