Das Leben ist ein Schnapsglas

Ausgelassene Stimmung in der Cantina "La numero uno", einer der größten ihrer Art in Mexiko-Stadt. Zur musikalischen Untermalung spielt eine typisch mexikanische Bläsergruppe, die sogenannten "Mariachis". Rund 1000 dieser Trink- und Eßlokale gibt es allein in der mexikanischen Hauptstadt, und noch viele Tausend mehr in der Provinz. Aufgenommen am 27. November 1996.
Ausgelassene Stimmung in der Cantina "La numero uno", einer der größten ihrer Art in Mexiko-Stadt. © picture alliance / dpa / Klaus Blume
Von Stefan Wimmer · 15.02.2014
Die mexikanische Cantina - für die Liebhaber der wohl schönste Ort der Welt, sich zu betrinken. Ein kulinarisches Reich, wie man es sonst nur aus der Welt der Märchen kennt. Ein Ort der Ekstase, des Genusses und der Feierlaune.
Und gleichzeitig auch ein Ort, an dem man leicht sein Leben verlieren kann - durch Pistolenkugeln und Machetenhiebe! Frauen waren in Cantinas lange Zeit verboten und auch ausländische Touristen haben sich kaum in sie verirrt, zu abschreckend wirkte das feurige Ambiente. Doch richtige Mexikaner verehren diese Saufpaläste mit erstaunlicher Hingabe. Wer sich als Fremder einmal mit Cantinas eingelassen hat, wird auch deshalb vielleicht ein Leben lang Sehnsucht nach Mexiko verspüren. Eine "Lange Nacht" über eine Institution, in der Genuss und Tod, Liebe und Tragik, Kater und Wiederauferstehung eng beieinanderliegen.
Diese Lange Nacht können Sie bis zu sieben Tage nach der Sendung in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.
Auszug aus dem Manuskript der Ersten Stunde
Playlist: Teil 1:
  • José Alfredo Jiménez: "Tu recuerdo y tú"
  • Lila Downs: "La Cumbia del Mole"
  • Banda El Recodo de Don Cruz Lizárraga: "La vida es una copa de liquor"
  • Pedro Infante: "Las tres botellas"
  • Calexico: "Minas de cobre"
  • Pedro Infante: "Yo No fui"
  • Wakal: "The Time"
  • Vicente Fernández: "Sangre de Indio"
  • PInfante: "Oye vale"
  • Los Tres Ases: "Mil congojas"
Flaschen von Tequila und Mescal in einem Shop in San Miguel de Cozumel, aufgenommen am 08.12.2010.
Flaschen von Tequila und Mescal in einem Shop in San Miguel de Cozumel, aufgenommen am 08.12.2010.© picture alliance / dpa / Daniel Gammert
Die mexikanische Cantina - die wohl schönste Art der Welt, sich zu betrinken!
Ein kulinarisches Zauberreich, wie man es sonst nur aus der Welt der Märchen kennt! Ein Ort der Ekstase, des Genusses und der Feierfreudigkeit ...
Und gleichzeitig auch ein Ort, an dem man leicht das Leben verlieren kann - in Form von Pistolenkugeln, Machetenschlägen oder Stuhlhieben!
Für Frauen waren Cantinas lange Zeit verboten - und auch ausländische Touristen haben sich nur selten in sie verirrt - zu abschreckend wirken der Lärm, der Bierdunst und die dicke Luft.
Doch richtige Mexikaner verehren diese Sauf-Paläste mit unglaublicher Hingabe - und wer sich als Fremder einmal mit Cantinas eingelassen hat, wird ein Leben lang Sehnsucht nach Mexiko verspüren.
Ein Feature von Stefan Wimmer.
Auf den ersten Blick erscheinen die Cantinas in Mexiko wie eine Mischung aus Imbiss, Sauflokal und Vereinsheim. Nicht ganz zu Unrecht: Die Philosophie hinter einer Cantina ist relativ profan: Man will dem Gast auf möglichst verlockende Weise zum Vollrausch verhelfen. Doch die Beziehung der Mexikaner zu ihren Cantinas ist nahezu sakral. Für einen echten Mexikaner hat der Kollektivsuff in der Cantina den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert wie ein Hochamt für die Jungfrau von Guadalupe.
Allein im Großraum Mexiko City gibt es Tausende von Cantinas - schon tagsüber sind sie proppenvoll -, und dennoch funktioniert eine jede wie ein eingeschworener Club. Schon beim Eintreten spürt man die bohrenden Blicke der Gäste, die jeden Neuankömmling prüfen: Ist er eingliederungsfähig in die Gemeinschaft, kann er vor den ehernen Gesetzen bestehen? Oft tragen die Cantinas auch bizarre Namen - beispielsweise "Das hohe Niveau", "Die klugen Müßiggänger", "Draufgänger statt Weicheier" oder "Alle zufrieden inklusive ich" -, die etwas Programmatisches, Verheißungsvolles an sich haben.
Doch wie hat man sich eine klassische Cantina eigentlich vorzustellen? Versuchen wir, den Prototyp zu beschreiben! Man betritt eine Cantina durch zwei Schwingtüren, die im Interesse der Gäste den Blick ins Innere verbergen. Wenn man die Schwingtür aufstößt, gelangt man in einen Raum, der in der Regel so karg wie die Bühne eines Beckett-Theaterstücks ist. An einer Seite ragt ein Tresen empor, im Raum sind Tische verteilt. Idealtypisch ist die Cantina mit einem grellen Neonlicht ausgeleuchtet, in dem die Gesichter der Gäste in äußerster Plastizität zu sehen sind, und an der Wand hängt ein schlichter Farbdruck, zum Beispiel eine österreichische Gebirgslandschaft oder ein düsteres "Letztes Abendmahl".
Doch diese Kargheit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Cantinas kulinarische Schlemmerparadiese sind - und zwar ganz besonderer Art: Denn in Cantinas gibt man dem Gast umsonst zu essen, soviel er will! Zu jedem Glas Bier, Schnaps oder Cocktail servieren die Ober sogenannte "Antojitos", Essens-Spezialitäten, "Schmankerl", Gaumenkitzler, wobei die Portionen von Getränk zu Getränk größer werden.
Beim ersten Glas kann man zum Beispiel zwischen Muschel-Suppen, Gemüsebouillons und Mais-Cremes wählen, die mit dem Maispilz Huitlacoche verfeinert sind. Oder man nimmt eine tüchtig scharfe, gratinierte Schweinegriebensuppe, die den Kater des Vortags zu vertreiben imstande ist.
Beim zweiten Glas werden beispielsweise Weinbergschnecken in Specksoße aufgetischt - oder Krabbencocktails mit pikantem Dressing. Beliebt ist auch Lammfleisch im Bananenblattmantel, das stundenlang im Erdofen gegart wurde, oder scharf herausfrittierte Maisfladentaschen - gefüllt mit Käse und Poblano-Chilis.
Beim dritten Glas serviert man dann gebratene Scampis, gegrillte Paprikawurst, frittierten Fisch - oder aber eine heiße Form mit Hähnchen-Rouladen, goldgelb mit Emmentaler und Tomatensoße überbacken.
Und beim vierten Durchgang schließlich legt man sich richtig ins Zeug, dann werden die Hauptgerichte aufgetragen: knusprige Schweinshaxen, dicke Steaks oder Hühnchen in dicker, scharfer "Mole"-Soße. Die verschiedenen "Mole"-Soßen, alle aufwendig zubereitet aus unterschiedlichsten Chilis, Mandeln, Nüssen, Kräutern, Samen und Kakaoschoten, zählen zu den fremdartigsten Spezialitäten Mexikos. Es gibt sie in den verschiedensten Farbvarianten - und viele der Rezepte gehen ursprünglich auf katholische Nonnen zurück, die in ihren Klöstern Kochwettbewerbe ausgefochten haben.
Auszug aus dem Manuskript der zweiten Stunde der Langen Nacht
Playlist: Teil 2:
  • Banda R-15: "Si tu boquita fuera"
  • Agustín Lara: "María Bonita"
  • Grupo Exterminador: "El albur de tu vida"
  • Paquita la del Barrio: "Bórrate"
  • Eliades Ochoa: "No me preguntes tanto"
  • José Alfredo Jiménez: "En el último trago"
  • Grupo Exterminador: "Soy cocodrilo"
  • Ween: "Buenos Tardes Amigo"
  • Gloria Trevi: "Fue ese Tequila"
Männerbünde, Ehrenhändel, barbarische Rituale und Leber-Organe aus Stahl - die Cantina ist primär ein maskuliner Ort!
Doch natürlich ist irgendwo - in einem Winkel ihres Wesens - auch das weibliche Element versteckt! Denn wenn Männer den Großteil ihrer Zeit auf den harten Holzstühlen einer Cantina herumsitzen, muss hinter alledem logischerweise auch irgendwo die Frau zu finden sein - als tieferer Beweggrund, den Humpen zuzusprechen. Zwar hieß es in früheren Zeiten am Eingang der Cantinas: "Zutritt für Uniformierte, Verkäufer, Frauen und Hunde verboten!" - dennoch ist das andere Geschlecht immer anwesend und bestimmt Denken und Tun!
So zum Beispiel ist die Cantina der klassische Ort, an dem man sich Mut für eine Fensterserenate antrinkt! Eine Fensterserenate besteht darin, nachts unterm Fenster der Angebeteten zu erscheinen und ein Liebeslied zu schmettern - vorzugsweise mit einer extra angemieteten Band. Auf der Plaza Garibaldi stehen zu diesem Zweck bis in die Morgenstunden Hunderte von Musikanten bereit - Mariachi-Conjuntos, Cowboy-Kapellen, Bolero-Gitarristen-, die man nur anzuheuern braucht, um mit ihnen in einem Taxi zum Haus der Geliebten zu fahren. Dort singt man dann ein paar Ständchen - und hofft, dass sie die Tür aufmacht.
Manche Mexikaner greifen natürlich auch zu extravaganteren Ständchen, und heuern - je nach Geldbeutel - gleich berühmte Opernsänger an. Der Star-Tenor Pedro Vargas zum Beispiel berichtet, wie ihn eines Nachts der Komponist Agustín Lara für eine Fensterserenate aus dem Bett geklingelt hat - gemäß Laras Philosophie: "Frauen-Erobern ist ganz einfach! Wenn man einer Frau - und sei sie auch noch so kompliziert - das Gefühl gibt, dass sie eine Königin ist, wird sie sich dem Manne hingeben."
Ich schlief eines Nachts zuhause im Bett, als ich von hektischem Klingeln und verzweifelten Schreien geweckt wurde. Ich öffnete das Fenster - und unten auf der Straße stand mein Kumpan, Agustín Lara.
-"Goldkehlchen!", schrie er, "Goldkehlchen, du musst sofort runterkommen!"
Ich zog mich so schnell wie möglich an, stieg die Treppe hinab und sah Agustín Lara - zusammen mit dem Konzertgeiger Eulalio Uranga. Sie standen beide auf der Straße und schienen einen Lastwagen zu bewachen, auf dessen Ladefläche ein riesiges Piano stand. Als sie meine Verwunderung sahen, erklärte mir Lara:
-"Ich werde heute Abend der Schauspielerin María Félix ein Ständchen darbringen - und du wirst das Lied vortragen, das ich gerade für sie komponiert habe!"
Also stiegen wir alle in den Laster und wir fuhren nach Polanco, wo María wohnte. Noch während der Fahrt schärfte mir Agustín den Text ein und unterwies mich in der Melodie. Als wir ankamen, parkten wir den Laster vor Marías Haus, ich stellte mich unter ihr Fenster, und Agustín und Eulalio kletterten auf die Ladefläche und begannen Klavier und Geige zu spielen. So spielten wir im Garten von María Félix zum ersten Mal María Bonita - "Hübsche María" - den späteren Hit!
"Hübsche María, / María meiner Seele, / wie ein Opferkorb voller Blumen / bringe ich dir meine Liebe dar ..." - solche Frauenverehrung ist häufig, noch häufiger herrscht in der Cantina jedoch eine andere Gefühlslage: die der Hassliebe gegenüber der Ex-Frau. In den Cantinas wimmelt es von Wracks, die die Treulosigkeit, die Bosheit und den Verrat ihrer ehemaligen Geliebten beweinen, dieses Miststücks, die an sämtlicher Misere schuld ist. Die gängigen Cantina-Texte, die die Gäste gemeinsam mit den Haus-Musikanten intonieren, sprechen hier eine deutliche Sprache:
Zwischen Glas und Glas verreck’ ich
und beweine deinen Verrat.

Schwarze Schatten werfen deine Lügen auf mich
und pressen unablässig Tränen aus mir heraus
so dichtete der Komponist Felipe Valdéz Leal in "Zwischen Glas und Glas".
Vor deinen Freunden hast du geprahlt, dass ich dich immer noch liebe,
Und dass ein ganzes Meer an Wein nicht genügt, um dich zu vergessen.

Es stimmt: Ich trank in der Cantina
und schrie laut deinen Namen, als ich schon völlig abgestürzt war
so klagt der Komponist Teodoro Bello in "Ein Meer aus Wein".
Ich weiß nicht, warum ich betrunken immer an dich denken muss -
Nüchtern bist du nämlich völlig aus meinem Kopf getilgt.

Doch jedenfalls, wenn mich etwas an dich erinnert,
zerbricht mir das Tequila-Glas,
so knirscht der Ranchero-König José Alfredo Jiménez in "Betrunken muss ich an dich denken".
Beim Wohl deiner Mutter hast du mir geschworen,
dass du mich liebst.

Damit du siehst, wie sich’s anfühlt,
damit du spürst, wie’s ich verspüre,

Schwöre ich dir bei meiner Mutter:
Für deinen Verrat wirst du bezahlen!
so droht der Komponist Chucho Palacios in "Immer betrunken". Die radikalste Drohung gegenüber Frauen stammt jedoch von der Band Grupo Exterminador, deren Motto gut lauten könnte: "Wenn ich das Wort Exfreundin höre, greife ich zum Revolver ..." So heißt es beispielsweise in ihrem Stück "Das Spiel des Lebens":
Wenn die Frau deines Herzens zur Verräterin geworden ist,
dann verfault dein Inneres und du wünschst, nie geboren zu sein.

Selbst der Stärkste fängt dann zu weinen an
und endet betrunken - so wie ich.
Die Situation ist wie in einem Kartenspiel,
in dem du nur zwei Alternativen hast:
Entweder du steigst aus - oder du bleibst.
Doch wenn du bleibst, weißt du, wen du töten musst.
Auszug aus dem Manuskript der dritten Stunde der Langen Nacht
Playlist: Teil 3:
  • Pedro Infante: "Copa tras copa"
  • Café Tacuba: "5"
  • El Gran Silencio: "No sabemos amar"
  • Café Tacuba: "La muerte chiquita"
  • Floriopondio: "Lamento Borricano"
  • Charles Mingus: "Goodbye Pork Pie Hat"
  • Charles Mingus: "Ysabels Table Dance"
  • Charles Mingus: "Mariachis"
  • Café Tacuba: "Ojala que llueve café"
  • Los Tres Ases: "Qué seas feliz"
  • Los Estrambóticos: "La cerveza y el dolor"
Die mexikanische Cantina - ein mythischer Ort der Ausschweifung und Entgrenzung!
Eine Kultstätte, so gigantisch wie die Pyramiden von Chichen Itzá! Eine nationale Institution, die eigentlich zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt werden sollte! Doch wie haben sie die vielen internationalen Touristen und Prominenten erlebt, die Mexiko während der Jahrzehnte einen Besuch abgestattet haben? Die vielen Reisenden, die das Land bestaunt haben? Denn Mexiko war zwischen 1930 und 1960 das Reiseland schlechthin, ein Mekka für westliche Intellektuelle, ein Anziehungspunkt für alle Kunstinteressierten. Wer waren die Fans und Freunde der Cantinas unter ihnen?
Der berühmteste Cantina-Liebhaber war natürlich Malcolm Lowry - es gibt kein Buch, das den Kosmos des Tresens so treffend beschrieben hätte wie sein Roman "Unter dem Vulkan".Im Grunde ist es ein Zufall, der den 27-jährigen Studenten und Pub-Trinker Lowry nach Mexiko verschlägt, eigentlich stammt er aus der Nähe von Liverpool, ist Sohn eines reichen englischen Baumwollhändlers. Auf einer seiner Europa-Reisen lernt er 1933 in Spanien die bildschöne, belgisch-stämmige Theater-Schauspielerin Jan Gabrial kennen - und macht ihr mit Nachdruck den Hof. Gabrial, literaturinteressiert und Hobby-Schriftstellerin, ist von dem geistreichen, vierschrötigen Jungautor sofort begeistert - und so heiratet man ein paar Monate darauf aus Überschwang in Paris.
Was die lebenslustige Jan Gabrial jedoch nicht weiß: Hinter der Fassade des selbstbewussten Abenteurers steckt noch ein anderer Malcolm Lowry: ein Mann mit der zwanghaften Neigung zur Flasche, ein Mann verfolgt von den Dämonen der Impotenz und der eigenen Unsicherheit, ein Mann, der in immer wiederkehrenden Phasen seines Lebens 24 Stunden am Tag trinkt, bis zur Bewusstlosigkeit, mit peinlichen Aussetzern und Entgleisungen. Wenn Lowry in einer solchen Phase steckt, lässt er sich zu schrecklichen Eifersuchtsszenen hinreißen:
Als ich im Ballsaal zum allgemeinen Vergnügen der Gäste einen russischen Tanz aufführte - den, wo man in der Hocke auf den Fußballen hüpft -, kam einer der Gäste und tanzte mit - unterstützt vom lauten Rufen und Klatschen der Anwesenden - bis zu dem Moment, in dem Malcolm uns ein Glas Wein über den Kopf schüttete und rief: (unangenehm lallend:) "Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau!" Niemand fand das lustig, es herrschte peinliche Stille, und ich sagte: "Malcolm! Du hast mein ganzes Kleid versaut!" Als ich kurz darauf nach Hause wollte, sagte Malcolm: "Neeeein, ich will noch weitertrinken, du wolltest ja unbedingt auf diese Silvesterparty!" Ich legte mich also aufs Sofa und schlief ein wenig, und als ich wieder erwachte, saß der Cousin des Gastgebers neben mir und fragte: "Jan, ist dir nicht gut? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?" - woraufhin sofort wieder Malcolm über uns auftauchte und rief: "Während ich die Gäste mit meiner lustigen Ukulele unterhalte, schläft meine Frau mit einem anderen Mann auf dem Sofa!"
Es sind also sehr harmonische, friedfertige Monate, die Jan Gabrial und Malcolm Lowry miteinander verbringen, und als ihre Ehe schon kurz vor dem absoluten Aus steht, schlägt Jan Gabrial vor, einen Neuanfang zu versuchen, in der mexikanischen Provinz, wo beide sich aufs Schreiben konzentrieren können - und keine Rücksicht auf gesellschaftliche Zwänge nehmen müssen. Von Los Angeles fahren sie daher mit dem Dampfer nach Mexiko - eine fatale Fehlentscheidung, denn nirgendwo ist die Versuchung für einen Trinker größer als in Mexiko, sich in den Tod zu saufen. Das Ehepaar mietet sich eine Villa im beschaulichen Cuernavaca, und schon nach wenigen Tagen taucht Malcolm Lowry im Kosmos der Provinz-Cantinas ab - und es beginnt das, was man den größten Filmriss der Literaturgeschichte nennen könnte: Bei seiner Gattin lässt er sich erst dann wieder sehen, wenn sein Geld alle ist oder die Polizei nach ihm sucht. Mit einem Freund des Paares muss Jan Gabrial täglich die Cantinas durchforsten, um Lowrys alkoholischen Amoklauf Einhalt zu gebieten.
Als ich Malcolm wieder einmal mit Alan suchen musste, sagte dieser zu mir:
-"Jan, so geht das nicht weiter! Malcolm kennt so viele Schlupfwinkel, wir können nicht täglich die ganze Stadt nach ihn durchkämmen. Ich komme mir vor wie ein Kindermädchen! Wieso hast du einen solchen Menschen bloß geheiratet?"
Ich musste an einen anderen Freund denken, der mich dasselbe gefragt hat:
-"Ist Malcolm immer so? Wie hältst du das nur aus mit jemandem, der so ist?"
Doch Malcolm war nicht immer so. Es gab in unserer Ehe auch Zärtlichkeit, konzentriertes Arbeiten und viel lustige Momente. Das war der Malcolm, den ich kennengelernt hatte - und an den ich mich immer noch klammerte. Schließlich machten wir uns auf die Suche - und mussten mehrere Cantinas abklappern, weil er uns immer eine Nasenlänge voraus war und sein Glas schon ausgetrunken hatte. Als wir ihn am Tresen aufgriffen, delirierte er gerade von seiner Lieblingsfantasie - nämlich dass er ein tapferer Kampfflieger im spanischen Bürgerkrieg war, der aufseiten der Republikaner focht und von Francos Truppen über Ávila abgeschossen wurde. Alan und ich gaben Malcolm ein Schlafmittel, das er auch bereitwillig einnahm, aber er wurde nicht müde, sondern trank einen Mezcal nach dem anderen. Ich war am Überlegen, ob ich ihm nicht eine zweite Tablette anbieten solle, doch wie in einem schwarzhumorigen Witz tauchte die Fantasie-Schlagzeile in meinem Kopf auf: "Frustrierte Amerikanerin bringt ihren englischen Ehemann um - und redet sich damit heraus, dass es ein Unfall war!" Nach drei Stunden konnten wir Malcolm schließlich beschwatzen, mit nach Hause zu kommen, doch schon nach wenigen Stunden hatte er sich wieder davongemacht - ich fand seine Matratze nurmehr leer.
Nach mehreren Monaten Cuernavaca ist Jan Gabrial mit ihrer Kraft am Ende: Sie trennt sich von Lowry, flieht zurück in die USA und überlässt ihn seinem Schicksal. Lowry bleibt noch mehrere Monate im Hochland von Mexiko, frequentiert weiterhin eifrig die Cantinas, doch in seinen lichten Momenten schreibt er einen Roman, der später auf eine Stufe mit James Joyces Ulysses oder Döblins "Berlin Alexanderplatz" gestellt werden wird: "Unter dem Vulkan" - die narrative Höllenfahrt eines Säufers, der im Buch nur "der Konsul" heißt. Der gequälte Bewusstseinsstrom des Konsuls, seine Tresen-Monologe - flackernd, besessen, repetitiv, voller Bitterkeit - gehören zum Eindringlichsten, was die moderne Prosa an Grenzerfahrungen hervorgebracht hat:
Aus allen Poren Alkohol schwitzend, stand der Konsul an der offenen Tür des "Salón Ofélia". Wie vernünftig, dass er einen Mezcal getrunken hatte, wie vernünftig! Denn es war unter diesen Umständen das richtige, das einzige Getränk. Zudem hatte er sich nicht nur bewiesen, dass er keine Angst davor hatte, sondern er war jetzt hellwach, wieder völlig nüchtern und sehr wohl imstande, es mit allem aufzunehmen, was ihm in den Weg kommen mochte. Wäre da nicht dieses fortwährende leichte Zucken und Hüpfen in seinem Gesichtsfeld gewesen - wie von unzähligen Sandflöhen -, er hätte sich einreden können, seit Monaten nichts getrunken zu haben. Nur eines stimmte nicht: Ihm war es zu heiß.
Stefan Wimmer
Die 120 Tage von Tulúm
Eichborn Verlag 2008
Irgendwo zwischen Benjamin von Stuckrad-Barre und Hunter S. Thompson ... "Ich bestellte nochmals ein Weißbier mit Whiskey. Die Ruhe im"Fun-Beisl" war hypnotisch. Sie passte zum langsamen Fluss des Alters und zum stoischen Einverständnis mit einer ereignislosen Welt."Wer wie Ingo Falkenhorst in tiefster bayerischer Provinz mit sanfter Lakonie die Ruhe vor dem nahenden Sturm genießt, der darf schon mal philosophisch werden. Und wahrhaftig. Denn klar ist: Es wird viel Alkohol bestellt in Ingo Falkenhorsts Welt. Und noch mehr getrunken. Denn Alkohol ist neben Selbstironie und Sex eine der mächtigen Waffen, mit denen man sich das feindliche Leben in Form von Tengelmann-Kampfschwadronen, Künstlern mit bizarren französischen Kriegsnamen und all den Wahnsinnigen, die eigentlich schon lange hätten entmündigt werden müssen, vom Leib halten kann. Und Wahnsinnige gibt es viele: in der bayrischen Provinz, an der Uni in München, in Bonn, in Barcelona, in Marseille. Und trotz Berger und Meindorff, die in Krisensitzungen im Schellingsaloon oder am Telefon seine emotionalen Verstrickungen mit freundschaftlichem Zynismus kommentieren, ist Ingo ein wirklicher Lonesome Cowboy, der nur ein Ziel hat: das lang ersehnte Auslandsstipendium, dass ihn direkt in das Herz von Mexiko City trägt. Ohne Rückfahrkarte ...
Stefan Wimmer
Der König von Mexiko
Heyne Verlag, 2009
Willkommen in der Welt des munteren Machismo. Stets knapp an Geld, aber reich an körpereigenem Testosteron, körperfremden Alkoholika und sonstigen Drogen, hängt ein deutscher Student im Nachtleben von Mexiko City ab. Sein Ziel: statt der Literatur das pralle Leben zu studieren. Unvermittelt gerät er an eine Tochter aus reichem Hause und ist fest entschlossen, diesen Fang nicht mehr entkommen zu lassen