Das Leben ist ein Boxkampf

29.07.2013
Boxen ist eine archaische Angelegenheit - dennoch behauptet Joyce Carol Oates, dass eine Verwandtschaft zwischen Boxern und Schriftstellern bestünde. Oates Essay über die Phänomenologie des Boxens zählt längst zu den Klassikern über "die süße Kunst des Verletzens".
Linke Gerade, rechte Gerade, schneller, schneller, dann ein gut platzierter Uppercut, und schon liegt der Gegner am Boden. Er wird angezählt, der Gong erklingt, die Sache ist entschieden. Die dunkle Faszination des Boxens hänge nicht nur mit den grandiosen Triumphen der Kämpfer zusammen, sondern vor allem mit den dramatischen Niederlagen, erklärt die kanadische Schriftstellerin Joyce Carol Oates.

Sie hat recht. Wo sonst kann man jemanden derartig exemplarisch verlieren sehen, Aufstieg und Fall so verdichtet erleben? Boxen ist eine archaische Angelegenheit: Zwei Männer begeben sich in den Ring und im Grunde tritt nur einer wieder heraus – der Sieger. Für ihre private Begeisterung, die viele ihrer Freunde seit jeher irritiert, hat Oates eine einleuchtende Erklärung. Einerseits habe sie ihr Vater damit angesteckt und schon früh in die Rituale der "artigen Kunst" eingeführt. Andererseits bestünde eine tiefe Verwandtschaft zwischen Boxern und Schriftstellern. Ähnlich wie dieser unterwirft sich auch ein Puncher auf mönchische Weise einem selbst gewählten Schicksal, arbeitet mit martialischer Systematik und unter größten Entbehrungen über einen langen Zeitraum auf ein Ziel hin, bis er im Moment des Kampfes – beziehungsweise der Veröffentlichung – alles riskiert. Der Boxkampf selbst ist eine Geschichte ohne Worte.

Joyce Carol Oates Essay über die Phänomenologie des Boxens heißt im Original On boxing, stammt aus dem Jahr 1987 und zählt längst zu den Klassikern über "die süße Kunst des Verletzens". Der Manesse-Verlag kombiniert ihn mit weiteren Texten der Autorin zum selben Thema, die bisher nicht auf Deutsch vorlagen. Das Ergebnis ist mitreißend. Oates liefert eine Zusammenfassung der Ursprünge des Boxens, erklärt die Herkunft aus der Antike und erläutert die Entwicklung in England, wo Ende des 17. Jahrhunderts Boxen in Mode kam, einige Zeit später erstmals Handschuhe benutzt wurden, Gentlemen und Aristokraten ebenso involviert waren Metzgergehilfen und Schiffsjungen und schließlich 1867 das erste Regelwerk entstand.

Nebenbei porträtiert die Autorin große Vertreter des Fachs, wie Joe Louis, Sugar Ray Robinson, Muhammed Ali, Jake La Motta oder Mike Tyson, die bis auf den fröhlichen Ali meistens in Besserungsanstalten oder im Gefängnis mit dem Training begannen und nur so aus der Unterschicht aufstiegen. Die Schriftstellerin versteht Boxen mitnichten als einen Sport, auch hat es für sie keinen metaphorischen Wert. Umgekehrt funktioniert es, sagt Oates: Das Leben ähnelt dem Boxen, jeder durchleidet in der alltäglichen Wirklichkeit endlose Kämpfe in vielen Runden, es kommt zum Schlagabtausch, man geht in den Clinch und ab und zu hört man einen Gongschlag. Einleuchtend ist auch ihre Erklärung für die Verstörung, die von den Kämpfen ausgeht. Boxen rührt an ein Tabu unserer Zivilisation: "Du sollst nicht töten" gilt plötzlich nicht mehr, denn im Ring müssen die Kämpfer einen Killerinstinkt besitzen, sonst gehen sie unter. Oder wie es der Weltmeister im Schwergewicht Joe Frazier ausdrückte: "Ich will meinen Gegner nicht k.o. schlagen. Ich will sein Herz."

Besprochen von Maike Albath

Joyce Carol Oates: Über Boxen
Übersetzt von Ursula Locke-Groß und Andrea Ott
Manesse Verlag, Zürich 2013
315 Seiten, 19,95 Euro