Das Leben hinter den Bildschirmen

20.12.2011
In seinem Essayband "Bluescreen" analysiert der Kulturwissenschaftler Mark Greif die totale Ästhetisierung und Dramatisierung unseres Lebens. Dabei untersucht er die Wirkung von Reality-Fernsehen auf den Alltag, die Fetischisierung der Jugendlichkeit sowie die Geschichte des HipHop.
Als Mitherausgeber des New Yorker Magazins n+1 hat sich der Kulturwissenschaftler Mark Greif einen Namen gemacht. Seit 2004 gilt das Magazin als intellektuelles Sprachrohr einer neuen Generation von Schriftstellern und Essayisten, das mit seiner Mischung aus politischen Analysen, Popkritik, Literatur und Theorie immer wieder vielbeachtete Debatten zu Gegenwartsphänomenen anstößt, wie zuletzt zur Figur des Hipster oder zur Occupy Wall Street Bewegung.

Diese Haltung prägt auch die Essaysammlung von Greif. Der Titel "Bluescreen: Ein Argument vor sechs Hintergründen" ist Programm: Die totale Ästhetisierung und Dramatisierung unseres Lebens ist der Ausgangspunkt seiner Zeitdiagnose. Wir sind zunehmend von Erzählungen und Fiktionalisierungen umstellt und erleben die Welt nurmehr in medialen Vermittlungen, zu denen Greif nicht nur Fernsehen und Internet zählt, sondern ebenso Geld und Sex. Durchgespielt wird diese These an der sexuellen Fetischisierung von Jugendlichkeit, am Realityfernsehen, an YouTube oder am Hip-Hop.

Greif zielt auf die Ideologien, die sich in die feinsten Poren des Alltags und die hintersten Winkel unserer Psyche hineingeschlichen haben. Wieso, so fragt er, vergöttert unsere sexuell liberalisierte Gesellschaft die Jugend als zugleich unschuldig und übersexualisiert? Und wäre der Sex nicht erst dann wirklich befreit, wenn man sich gegen ihn entscheiden könnte, ohne von der Gesellschaft stigmatisiert zu werden?

Bei aller Offenheit und Neugier für die medialen Screens und die Oberflächen des Pop kippt seine Kritik dabei doch gelegentlich in einen subkutanen Kulturpessimismus um. In ihrer Form sind diese Essays jedoch weniger dem Entlarvungsgestus der Frankfurter Schule verpflichtet, sondern erinnern eher an die "Mythen des Alltags” eines Roland Barthes. Greifs assoziativer Stil wechselt leichtfüßig von der dichten Beschreibung des Alltäglichen zur philosophischen Analyse, vom persönlich Erlebten zu politischen Implikationen.

Auf diese Weise gelingen ihm überraschende Erkenntnisfunken, die die Paradoxien des Lebens in der Spätmoderne erhellen. So ist das Reality-Fernsehen ein einzigartiges Medium demokratischer Öffentlichkeit, das es den Bürgern ermöglicht, sich gegenseitig in ihrem Alltag zu beobachten. Zugleich "formatiert" es diesen Alltag nach den Regeln des Fernsehens und ist ein mächtiges Instrument zur Durchsetzung sozialer Normen im Interesse unterschiedlicher Industrien, die immer weitere Bereiche des Privatlebens kolonisieren.

Am besten ist Greif immer dann, wenn er auf eigene Erfahrungen zurückgreift. So entfaltet er aus seinen Schwierigkeiten, als Weißer rappen zu lernen, eine faszinierende und äußerst unterhaltsame politische und ästhetische Geschichte des Hip-Hop, der mit seinem Sprachreichtum die amerikanische Kultur von unten erneuert und sich zugleich im Gangsta Rap der kapitalistischen Logik unterwirft.

Ob Hip-Hop, Sex oder ökonomische Ungleichheit: Die hellsichtige Analyse der tief in der amerikanischen Kollektivpsyche verankerten Spannung zwischen dem Streben nach individueller Freiheit und Selbstverwirklichung und dem permanenten Scheitern dieses Anspruchs an den gesellschaftlichen Bedingungen grundiert Greifs Essays und verleiht ihnen ihr aufklärerisches Ethos.

Besprochen von Philipp Albers

Mark Greif: "Bluescreen"
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Kevin Vennemann
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
Taschenbuch, 231 Seiten, 15 Euro
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