Das Leben geht weiter

13.03.2007
Von allen französischen Autoren jüdischer Abkunft bekennt sich Gilles Rozier wahrscheinlich am meisten zu seinen Wurzeln. Der Reiz dieses schnörkellos und distanziert erzählten Buches liegt in der Gegenüberstellung einer streng religiösen, fast schon archaisch zu nennenden jüdischen Welt, und den modernen Lebensformen jenseits festgelegter Geschlechterrollen, die auch in Israel mehr und mehr Einzug halten.
Seit langem haben jüdische Autoren die französische Gegenwartsliteratur nicht so bereichert wie im Moment. Yasmina Reza und Cécile Wajsbrot, Marc Lévy und Philippe Grimbert, deren neue Bücher, soweit ins Deutsche übersetzt, auch sämtlich an diesem Sendeplatz vorgestellt worden sind, bringen zwar keinen gemeinsamen Ton in die Gegenwartsliteratur unseres Nachbarlandes, aber sie bezeugen, jeder für sich, eine Vielfalt der Stimmen und Themen, die Frankreich zum augenblicklichen Zeitpunkt zu einer der interessantesten literarischen Landschaften Europas macht.

Von allen französischen Autoren jüdischer Abkunft bekennt sich der Professor für Judaistik an der Universität von Paris, Gilles Rozier, Jahrgang 1963, wahrscheinlich am meisten zu seinen Wurzeln. In Deutschland machte vor einigen Jahren sein während der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg spielender Roman "Eine Liebe ohne Widerstand" von sich reden, in dessen Mittelpunkt ein polnischstämmiger Jude stand, der in der Illegalität seiner Kellerexistenz im französischen Süden zu überleben versucht.

Jetzt kommt Rozier mit einem Roman zu uns, der ganz und gar unter Juden und sogar im heutigen Israel, in Jerusalem, spielt. "Abrahams Sohn" ist die Geschichte der 42-jährigen Sharon. Ihr Mann hat sie verlassen, ihr Sohn, der sich trotz des orthodoxen Umfelds für die Armee entschieden hat, kommt 20-jährig bei einem Attentat ums Leben, und Sharon scheint das Leben zunächst ein für alle Mal vergällt.

Einen Mann will sie nicht mehr, aber als sie bei einer Nachbarin erlebt, wie diese sich durch künstliche Befruchtung jenen Zustand der Mutterschaft verschafft, der dem Gesetz der Thora und ihrem Gebot "Seid fruchtbar und mehret euch" entspricht, stellt sie fest, dass auch sie wieder Leben schenken möchte. Ein Versuch, sich ihrerseits bei der Samenbank zu bedienen, schlägt fehl. Aber auf einmal stellt sie fest, dass sich die in einem Altersheim als Köchin arbeitende, noch sehr ansehnliche Frau den Arbeitskollegen Amos als Vater eines Kindes vorstellen kann.

Amos ist, wie sich im Laufe des Romans herausstellt, schwul, aber als streng religiös erzogener Jude möchte auch er sehr gern dem Gesetz getreu leben und Leben schenken, denn "Ein Mensch ohne Nachkommen tötet die Erinnerung an sich und an seine Vorfahren", hat er bei seinem Rabbi gelernt. Eine absolut außergewöhnliche Beziehung bahnt sich an, von der nur soviel verraten sei: Das Leben geht weiter …

Der Reiz dieses schnörkellos und distanziert erzählten Buches liegt in der Gegenüberstellung einer streng religiösen, fast schon archaisch zu nennenden jüdischen Welt, in der Rituale, Gebote und religiöse Zeremonien eine große Rolle spielen, und den modernen Lebensformen jenseits festgelegter Geschlechterrollen, die auch in Israel mehr und mehr Einzug halten.

Am Ende kommt bei der Zusammenführung unterschiedlicher Denk- und Lebensformen heraus: Alles geht, wenn das Primat des Lebens akzeptiert wird. Ein Roman, der auch das deutsche Publikum mit Ungewohntem konfrontiert und den Leser auf seine einfühlsame, aber doch beharrliche Art dazu bringt, sich Bezirken zu öffnen, die er bisher vielleicht noch gar nicht zur Kenntnis genommen hat.


Rezensiert von Tilman Krause

Gilles Rozier: Abrahams Sohn
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz.
DuMont Verlag, Köln 2007, 157 Seiten, 19,90 Euro