Das Leben eines "Mitmischers"

03.10.2013
Er dürfte der meistunterschätzte Autor seiner Generation sein - dabei liegt von Dieter Kühn, 1935 geboren, bei Köln lebend, ein umfangreiches und vielfach preisgekröntes Werk vor. Nun kommt seine Autobiografie, für die er ein halbes Leben lang gesammelt hat.
Man kennt ihn als den großen "Mittler" des Mittelalters. Mit seinen Romanen um Oswald von Wolkenstein oder Tristan und Isolde entwarf Dieter Kühn ein fiktionales, zugleich akribisch recherchiertes Panorama einer Epoche, die uns weit näher liegt als viele bis dahin glaubten. Darüber hinaus hat der 1935 geborene, höchstproduktive Schriftsteller an die 60 Bücher geschrieben, Romane, Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke.

Für die nun vorliegende, mit 1280 Seiten überaus schwergewichtige Autobiographie sammelt er schon sein halbes Leben lang. Persönliche Dokumente, Briefe, Fotos, Familiengeschichten, aber auch Flugblätter, Zeitungsartikel, Bulletins zur Lage der Nation. Zu seinen prägenden ersten Erinnerungen gehört "das magische Auge", dieses runde Ding am alten Röhrenradio: Je mehr Grün es zeigte, desto besser war der Empfang – wie während des Krieges, als das Kind seine Mutter beim heimlichen Hören von BBC ertappte. Wie überhaupt Sinneseindrücke, das Verschmelzen akustischer und visueller Signale mit Bildungssplittern dieses Lebensbuch wie ein roter Faden durchziehen.

Von den Bombennächten in Köln ("Schau es dir genau an!") über Herrsching am Ammersee, wohin die Familie flüchtet, die Rückkehr in das vom Krieg zerstörte Rheinland bis zum Ausguck am Paul-Lincke-Ufer im Nachwende-Berlin – anekdotisch, doch mit protokollarischer Genauigkeit listet Kühn Lebensstationen auf: Chewing gum und der "erste Neger", Petting im Studentenzimmer, Anti-Pershing-Demos, DDR-Besuche und die Bekanntschaft mit einer Überwachungsbürokratie. In beklemmend bis skurrilen Episoden bilanziert er die Erfahrungen eines "Mitmischers", als Wahlhelfer in der Eifel, als Ghost-Writer einer Gentechnik-Kommission oder bei einer Psychodrama-Gruppe. Es ist sechzig Jahre hinweg erlebte Zeitgeschichte.

Nach einem schleppenden ersten Drittel, in dem genretypische Durststrecken durchgemacht werden, an Familienstammbäumen und Listen von Wohnortswechseln entlang, nimmt das Buch Fahrt auf. Um das chronologische Gerüst herum gruppiert Kühn immer wieder Motive, die ihn dauerhaft begleiten, Jazz und der Hang zum Metropolitanen, Menzel und das Schwimmen, Proust oder die Liebe zum Landleben.

Sparsam im Name-Dropping, tauchen Kollegen nur am Rande auf. Der Nobelpreisträger Böll etwa, der "viel zu wenig Freunde" hatte, Wolfgang Hildesheimer, mit dem sich bestens über Brahms und Mozart fachsimpeln ließ. Umso ausführlicher wird geschildert, wie die Freundschaft mit Siegfried Unseld in unüberbrückbare Gegnerschaft umschlug und was Verlagswechsel mit sich bringen.

Kühns Lebensbuch sind keine sortenreinen Memoiren. Dazu misstraut der Autor allzu sehr der Verlässlichkeit von Erinnerungen. Weil das Gedächtnis die Tendenz zu vereinfachter Linienführung hat, wird es laufend auf seinen Authentizitätsgehalt abgeklopft - und mit Sachbucheinsprengseln gekreuzt. Wie war das wirklich in den 50ern? Oder wie fühlte sich die Kuba-Krise an, wie der Kalte Krieg? Die Ausflüge zu den Kronzeugen der Geschichte geraten leider oft allzu zu papieren.

In seinem Element aber ist Kühn, wenn er Gedankenspiele anstellt, historische Abläufe durch fiktive Varianten "verrückt". Auch wenn das Buch mitunter blasse Prosa liefert und jede Art von Erzählökonomie ignoriert: es lebt von der genauen Menschen- und Milieubeobachtung, von der Hellsichtigkeit eines politisch wachen Zeitgenossen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Dieter Kühn: Das magische Auge
Fischer-Verlag, Frankfurt /Main 2013
1280 Seiten, 30,00 EUR
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