Das Leben der Übriggebliebenen

Von Margarethe Blümel · 13.09.2012
In Indien gilt vielerorts noch immer, dass Witwen Unglück verheißen. In der Hoffnung auf Erlösung leben viele der Frauen in den traditionellen weißen Witwensaris im Wallfahrtsort Vrindavan. Doch während sie ein Leben in Armut führen, wird ihr religiöser Lobgesang in den Tempeln in klingende Münze verwandelt.
Vrindavan, drei Zugstunden südlich von New Delhi, im Govind Dev Temple. Aus ganz Indien kommen die Anhänger Krishnas hierher, um ihren Gott zu preisen und ihm Ehre zu bezeugen.

Lord Krishna, der im hinduistischen Epos Bhagavadgita als höchstes Wesen dargestellt wird, macht auch durch seine erotischen Abenteuer immer wieder von sich reden. Nach Ansicht der Gläubigen soll Krishna bis heute ab und zu an diesem heiligen Ort lustwandeln. Auch deshalb leben Tausende von Witwen in Vrindavan – und täglich werden es mehr, meint die indische Frauenrechtlerin Mohini Giri.

"Die Frauen suchen Krishnas Wallfahrtsort auf, weil sie hoffen, dort Erlösung zu finden. Zugleich glauben sie, damit dem Witwensein entrinnen zu können, da sie dort mit dem Gott verheiratet sind. So wie die Kuhhirtin Radha, die Krishna einem bekannten Mythos zufolge zu seiner Gefährtin erhoben hat. Und schließlich fühlen sich die Witwen in Vrindavan nicht ganz allein, weil sie unter Gleichgestellten sind."

Die Witwen, die alles daran setzen, nur nicht aufzufallen, sind an ihren schmucklosen weißen Saris zu erkennen. Manche sind so arm, dass sie sich nicht einmal die dazugehörige Halbbluse leisten können. Deshalb haben sie einen Teil ihres verschlissenen, meterlangen Gewandes um Brust und Schultern geschlungen. Die Frauen schauen niemanden ins Gesicht, wenn sie durch die Gassen ziehen, um Nahrung zu erbetteln. Fast alle von ihnen sind mager, mit von scharfen Falten durchzogenen Gesichtern, obwohl einige gerade einmal dreißig oder höchstens vierzig Jahre alt sind.

Warum, fragt Mohini Giri, müssen Witwen ein derart trostloses Leben führen? Weshalb sollten sie dazu verdammt sein, sich ein Leben lang in ihren traditionellen weißen Witwensari zu hüllen? Wieso sollen sie sich nicht wie ganz normale Frauen hübsch machen und am Leben teilhaben?
"Ich fürchte mich nicht vor den Leuten. Ich habe ein reines Gewissen. Als ich einigen Frauen farbige Saris geschenkt habe und sie dazu ermunterte, sie auch zu tragen, wurde ich in Vrindavan mit Eiern und Tomaten beworfen. Mir war das egal. Ich hatte Krishna an meiner Seite! "

Seit Jahrhunderten machen sich mittellose, von der Familie verstoßene Frauen auf den Weg nach Vrindavan. In der innigen Verbindung zu Krishna versuchen sie, ihrem Leben trotz aller Hoffnungslosigkeit ein wenig Sinn abzugewinnen. Zugleich steht dieser Hindu-Gott für ein anderes religiöses Ziel - dem Kreislauf der Wiedergeburten zu entkommen und in das erlösende Nichts einzugehen. Doch vorher sagt Mohini Giri, fristeten die Witwen im Hier und Jetzt ein armseliges Dasein.

"Wenn sie im Tempel religiöse Lieder singen, bekommen sie dafür zwei Rupien - das ist so gut wie gar nichts! Es reicht nicht einmal fürs Essen. Und das, obwohl die Ashrams, in denen diese Lieder vorgetragen werden, von großen, reichen Stiftungen geführt werden. Außerdem verfügen sie über die Spenden der Gläubigen, die die Tempel besuchen - die Ashrams haben also jede Menge Geld!"

Jeden morgen gegen halb fünf stehen die Witwen auf, baden ihre Krishna - Statuen, kleiden sie neu ein und halten dann eine Stunde Zwiesprache mit ihrem Gott. Von sechs bis zehn Uhr singen sie anschließend in den Tempeln religiöse Lieder, um danach auf der Suche nach mildtätigen Gläubigen bettelnd durch die Gassen Vrindavans zu streifen. Viele postieren sich vor dem großen Hare-Krishna-Tempel.

Während die Witwen oft nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben, wird ihr religiöser Lobgesang in den Tempeln in klingende Münze verwandelt: Geschäftsleute spenden dafür regelmäßig größere Summen. Im Gegenzug stellen die Tempelbetreiber ihnen zwei - bis dreimal so hohe Spendenquittungen aus. Damit schlagen die Geldgeber nicht nur den Steuerbehörden ein Schnippchen, sondern erhöhen dank der finanziellen Zuwendung an den Tempel auch ihr Ansehen bei Kunden und Glaubensbrüdern.

Der Tempeltourismus mag für einige Witwen zwar gelegentlich ein kleines Zubrot sein, darauf verlassen können sie sich nicht. Die Empathie der Gläubigen ist begrenzt. Sie sind ohnehin umringt von Leid: von Bettlern ohne Arme, ohne Beine, von Leprakranken, in deren Gesichtern Nase, Mund und Augen fehlen oder von an Elephantiasis leidenden Menschen mit monströs angeschwollenen Gliedmaßen.

Frauen in weißen Witwen-Saris, die demütig das Haupt neigen, haben angesichts dieser Konkurrenz keine besonders großen Chancen auf Mitleid. Und: Jeden Tag treffen am Bahnhof im benachbarten Mathura neue Witwen ein, die mit der Rikscha nach Vrindavan weiterfahren.

"Sie haben von Anfang an viele Probleme. Es ist ja nicht so, dass die Frauen auf eigenen Wunsch hierherkommen. In vielen Fällen wurden sie nicht nur aus ihrem Haus geworfen sondern zusätzlich gezwungen, auch ihren ehemaligen Wohnort zu verlassen."

Sagt Mathew Cherian, Leiter einer der Altenhilfsorganisation in Delhi.

"Um 1860 herum gab es schon einmal eine Reformbewegung mit dem Ziel, Witwen wieder zu verheiraten. Aber das stieß auf viel Widerstand und konnte sich nicht durchsetzen. So bürgerte es sich mehr und mehr ein, die Witwen nach Vrindavan, zu Gott Krishna, zuschicken. Auch im Wallfahrtsort Benares lassen sich einige Witwen nieder. Denn wenn sie dort, am Ufer des heiligen Ganges, sterben, müssen sie in keinem späteren Leben mehr leiden, weil sie keine Wiedergeburt zu befürchten haben."

Glück im Unglück haben die Frauen gehabt, die einen Platz in Vrindavans sogenanntem Haus der Mutter bekommen haben. Mohini Giri hat es mit dem Geld einer reichen Gönnerin erbauen lassen.

Sobald das Haus komplett fertig gestellt ist, sollen dort fünfhundert Witwen eine neue Heimat finden. Sie werden in Mehrbettzimmern wohnen, ähnlich wie die schon jetzt hier untergebrachten Frauen.

Über jedem Bett hängt ein Moskitonetz, das auch als Sichtschutz funktioniert. Die Zimmer sind klein, aber hell. Es gibt kein Nachttischchen, auch keinen Kleiderschrank. Duschen und Toiletten sind in einem Block am Ende des Flurs untergebracht. Jede Witwe hat eine Art kleines Reck für ihren Sari und die Saribluse hinter ihrem Bett. Unter den Liegen sind blank blitzende Stahlkoffer mit der Habe der jeweiligen Bewohnerin verstaut.

Gerade echauffiert sich auf dem Flur eine alte Dame darüber, dass ihre Bettnachbarin sich an ihren Laddhoos, den süßen Kugeln aus Kichererbsenmehl, zu schaffen gemacht hat. Eine Mitarbeiterin des Hauses redet ihr zu. Es wird ruhiger. Und Ganga, die am Ende des Flurs auf der Schwelle sitzt, beginnt zu erzählen.

"Ich bin seit fünf Jahren hier. Mein Mann war viel älter als ich. Nachdem er verstorben war, hat mein Herz plötzlich so komisch geschlagen. Ich müsste Tabletten nehmen, hat die Ärztin in der Stadt gesagt. Aber im Haus der Schwiegereltern wollte keiner etwas davon hören. Was sollte ich machen? So bin ich dann also hierhergekommen."

Ganga stammt aus Bihar. Sie ist achtunddreißig, vierzig oder vielleicht auch zweiundvierzig Jahre alt - so genau kann sie das nicht sagen. Sie hat schöne, mandelförmige Augen. Ihr dichtes schwarzes Haar fällt in einem Zopf bis auf die Hüften. In ihre Heimat, nach Bihar, könne sie nicht zurück. Und wieder heiraten - wer wolle eine wie sie schon nehmen, fragt sie.

"Eine Witwe, die noch mal heiratet? Das geht höchstens dann, wenn sie noch zur Arbeit taugt! Mit einer wie mir will doch keiner zu schaffen haben. Ich muss immer wieder zum Arzt und brauche Tabletten. Ich lebe jetzt hier im Heim und hier werde ich auch bleiben."

Gauri, Gangas Zimmermitbewohnerin, denkt ähnlich. Zwischen vierzig und fünfzig Jahre ist die aus Rajasthan stammende Frau alt, komplett ergraut und ohne einen einzigen passablen Zahn im Mund. Vor sieben Jahren, sagt sie, sei sie mit ihrem Ehemann und ihren Schwiegereltern in Jaipur in den Zug gestiegen. Ihr Mann hatte ihr eine Pilgerreise nach Vrindavan versprochen. Bei der Ankunft am Bahnhof von Mathura habe die Schwiegermutter sie dann allein in eine Rikscha gesetzt und dem Rikschaläufer gesagt, er solle sie zum Krishna-Tempel bringen.

"Vorher haben sie mich häufig geschlagen, weil ich keine Kinder bekommen konnte. Dann war nichts mehr gut genug. Irgendetwas fanden sie immer. Ich habe ja noch Glück, weil ich hier im Heim untergekommen bin. Dabei bin ich nicht mal Witwe. Aber ich lebe so, als sei ich eine."

Besuch bekommen die Frauen nicht. Sie wissen nicht einmal, ob ihre Kinder, Eltern oder Geschwister noch leben – klar ist ihnen dagegen, dass sie in deren Augen nicht mehr existieren. Die Witwen haben alles verloren: Den Mann, die Kinder, die Eltern, ihre Aufgabe im Familienverband und den damit verbundenen Platz in der Gesellschaft. Geld hatten sie ohnehin keins, weil die Finanzen in den Händen des Ehemannes und der Schwiegereltern lagen.

"Wir haben die Regierung wiederholt um Hilfe gebeten. Schließlich ist es uns gelungen, einigen der in Vrindavan und anderenorts lebenden Witwen eine kleine Rente zu verschaffen. Dann hat HelpAge India in vielen Teilen Indiens ein "Adoptiere-eine-Großmutter" Programm geschaffen. Der Spender wird damit zum Sponsor einer bedürftigen Dame."

Frauen aus der gehobenen Mittel - und der Oberschicht sind auf diese Hilfen im Allgemeinen nicht angewiesen. Für sie sind, sollte der Ehemann sterben, die finanziellen Angelegenheiten in der Regel vertraglich geregelt. Witwen aus wohlhabenden Schichten behalten in der Regel auch das Wohnrecht in ihrem Haus. Sollten sie Hilfe benötigen, stehen Hausangestellte oder Privatpfleger zur Seite.

Eine Massenhochzeit in Süd-Delhi. Im Festzelt schwitzen Gäste, Honoratioren und Brautleute gleichermaßen. Der Hitze wegen und ein paar wohl noch ein wenig mehr wegen der Aufregung über das, was gleich auf sie zukommen wird.

Fünfundzwanzig Paare schließen an diesem Tag den Bund der Ehe. Die Frauenrechtlerin Mohini Giri hat die Massenhochzeit initiiert. Nicht nur, um die Kosten für die immer sehr aufwendig gestalteten Feiern zu senken. Sondern auch, um die Frauen an den Mann zu bringen.

Vier der Bräute sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Es sind Witwen. Dies ist ihre zweite Hochzeit.

Fünfundzwanzig Hochzeitspaare sitzen einander in zwei Reihen gegenüber. Die Männer tragen Anzüge mit eng anliegenden Hosen und langen Jacken, die mit stoffüberzogenen Knöpfen verziert sind. Auf der Vorderseite ihres Turbans prangt ein silbrig glänzender Stein. Die Bräute sind in den traditionellen roten Saris mit farblich passender Bluse gehüllt und schauen verlegen überall hin, nur nicht in Richtung ihres Bräutigams. Hinter jedem der Paare steht die Aussteuer aufgereiht: ein Fahrrad, ein Kerosinkocher, ein riesiger Sack mit Reis, ein Satz Kochtöpfe, ein Set ineinanderpassendes Metallgeschirr und ein tragbarer Fernseher.

"Ein wichtiger Fortschritt ist auf jeden Fall, dass sich seit mehr als zwanzig Jahren keine Frau mehr auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes verbrannt hat. Immerhin das haben wir erreicht!"

"Die Tradition ist starr und ein grundlegender Wandel braucht natürlich seine Zeit. Es gilt immer noch, dass Witwen Unglück verheißen. Dass sie bei wichtigen religiösen Ritualen und schon gar bei einer Hochzeit nichts zu suchen haben. Wir verheiraten sie also wieder und wir lassen sie bei der Hochzeitszeremonie mitwirken, um dieses Stigma endlich zu überwinden."

Während der Priester das hinduistische Hochzeitsritual durchführt und die Götter um Wohlwollen bittet, schreitet eine ältere Frau im blütenweißen Sari mit Goldborte die Reihen der Anwesenden ab und legt jeder und jedem frische Rosenblätter zu Füßen. Eine Witwe, die bei einer Hochzeitszeremonie mitwirkt – ein weiterer Tabubruch.

Selbst der Fotograf, der den Brautleuten später die Bilder aufs Handy schicken wird, stutzt, ist aber Profi genug, um die Kamera weiter auf sein aktuelles Motiv zu richten - eine ältere Witwe, die das Ende ihres Sari-Zipfels ein bisschen tiefer ins Gesicht zieht, aber weiter in die Linse schaut, während sie einer jungen Braut zwei Rosenblüten überreicht.