"Das kommt nie moralisch schwerblütig daher"

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Marietta Schwarz · 11.11.2009
Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, hat den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger zu dessen 80. Geburtstag als verantwortungsvollen zeitgenössischen Autor gewürdigt. Enzensberger sei immer spielerisch, witzig und intellektuell bravourös gewesen.
Marietta Schwarz: Gruppe 47, Kursbuch, Andere Bibliothek – ohne Hans Magnus Enzensberger sind sie nicht zu denken. Der Essayist, Lyriker und Intellektueller wird seit mehr als fünf Jahrzehnten in der Öffentlichkeit gehört – als zorniger Literat, poetischer Lyriker oder skeptischer Zeitgenosse, als linker Liberaler oder Konservativer, immer aber bescheiden, gewandt, weit gereist, polyglott, ein Weltenbürger, der seiner Zeit immer schon einen Gedanken voraus war. Er selbst redet ungern über sich, hält von Geburtstagen sehr wenig und Interviews wird er auch heute an seinem 80. Geburtstag nicht geben. Wir haben Wolfgang Thierse, den Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags, Germanisten und Kulturwissenschaftler um eine Würdigung gebeten, und da habe ich ihn zunächst gefragt, wann Hans Magnus Enzensberger eigentlich zum ersten Mal in sein Blickfeld geraten ist.

Wolfgang Thierse: Ja, während meines Studiums in Berlin. Man bekam ja über Radio, über Westfernsehen auch etwas vom kulturellen und literarischen Leben im Westen mit, und irgendwann mal haben mir auch Freunde Bücher von ihm mitgebracht. Also habe ich im Laufe der 60er-Jahre Sachen von ihm gelesen.

Schwarz: Was schätzen Sie an ihm – vor allem den Lyriker, den Essayisten, den Romanautor oder den kritischen Analysten unserer Wirklichkeit?

Thierse: Also am wenigsten den Romanautor und in allen anderen drei Beschreibungen, finde ich, ist er eine ganz eindrucksvolle Persönlichkeit. Wenn ich mich richtig erinnere, war das Erste, was ich von ihm richtig mit Begeisterung gelesen habe, ein Band, den er hat herausgegeben hat: "Museum der modernen Poesie". Das hat mir ein Freund aus dem Westen mitgebracht, als Taschenbuch, und da habe ich plötzlich wahrgenommen, was moderne Poesie weltweit ist, und das hat meinen Horizont erweitert über die deutsche Lyrik und vor allem die Lyriker in der DDR hinaus. Und das Zweite ist: Natürlich diese beiden Bände "Einzelheiten", wo er eine brillante, witzige, spielerische, geistvolle Kritik der Bewusstseinsindustrie, der Kulturindustrie der Bundesrepublik Deutschland, der politischen Verhältnisse, aber auch der literarischen Verhältnisse vorgelegen hat, das fand ich amüsant, witzig, hoch beeindruckend.

Schwarz: Florian Illies schreibt in der aktuellen "Zeit", ich zitiere: "Immer wenn Deutschland zu träumen begann, war Enzensberger bereits aufgewacht. Enzensberger ist und denkt einfach meistens einen Schritt weiter." Ist es auch das, was seine Bedeutung ausgemacht, oder anders gefragt, haben Sie sich auch schon mal von ihm aufwecken lassen?

Thierse: Also zu DDR-Zeiten fand ich – und das war doch etwas unerhört Wichtiges, dass da ein undogmatischer, antiideologischer Lenker, Denker am Werke ist, der den Marxismus nicht bierernst nimmt, sondern selbst mit diesem den Wähler als Lehrgebäude, als dogmatisches Lehrgebäude erlebte, der mit ihm spielerisch umgeht, der einen geradezu bemerkenswert sympathischen, intellektuellen Anarchismus pflegt. All das war sehr beeindruckend. Und das Letzte, wenn ich mich richtig erinnere, was ich zu DDR-Zeiten von ihm mitbekommen habe, war ein Band "Ach Europa!", wo er seine Erfahrungen aus Reisen nach Mittelosteuropa schildert und dort eine Formel, wenn ich das noch richtig weiß, geprägt hat, die ich so was von zutreffend und zugleich witzig und prägnant fand, nämlich er beschreibt den realen Sozialismus als höchstes Stadium der Unterentwicklung. Da sage ich, da hat er den Nagel auf den Kopf getroffen.

Schwarz: Er hat ja auch gesagt, dass der Sozialismus, oder er kam zu dem Ergebnis, dass der Sozialismus nicht funktionieren kann. Wie ist er denn eigentlich in der DDR wahrgenommen worden?

Thierse: Also zunächst mal nicht mit Sympathie offiziell, er war ja vielleicht als Linker, als gesellschaftskritischer Autor, aber es ist ja von ihm in der DDR wenig erschienen. Irgendwann mal, wenn ich das noch weiß, in den 70er-Jahren ein Heftchen in dieser Reihe "Poesiealbum", alles andere war eben Sache von Freunden, die Bücher mitbrachten und wo man etwas zu lesen hatte. In der Wissenschaft – also ich war ja Kulturwissenschaftler und habe mich mit Ästhetik befasst –, da war ein Aufsatz von großer Bedeutung, der irgendwann mal im Kursbuch erschien, nämlich der Aufsatz "Baukasten zu einer Theorie der Medien". Und das war deshalb wichtig, weil er in Anknüpfung an Adorno und Horkheimer und an Brecht und andere Vorgänger eine Kritik der Kulturindustrie vornahm, die eben nicht wie bei Adorno und Horkheimer noch kulturpessimistisch war, sondern die kritisch war, aber eben die produktiven Möglichkeiten dieser Entwicklung ins Auge fasste, die Chancen und die Risiken damit. Und das, fand ich, war ein sehr konstruktiver, sehr produktiver Umgang mit einer neueren Entwicklung.

Schwarz: Über sich selbst sagt Enzensberger ja, ich gebe eine gewisse Vorliebe für Eigensinn zu, und tatsächlich hat man den Eindruck, er ist ein bisschen schwer greifbar, nicht so leicht in eine Schublade zu stecken. 1963 hat er ja die Wiedervereinigung gefordert, 1987 aber auf den imaginären Fall der Mauer zurückgeblickt und gesagt, Wessis und Ossis können sich nicht ausstehen. Also trotz seiner Wandlungsfähigkeit nimmt man ja doch jede Aussage von ihm ernst. Wie kommt das?

Thierse: Na ja, weil sie erstens brillant argumentiert ist und zweitens, weil man gelernt hat, das ist ein Autor, der nicht nur verantwortungslos daherredet, sondern der eigensinnig auf seinen eigenen Einsichten besteht. Und er hat nicht immer recht, aber häufig hatte er recht und das merkt man sich und deswegen guckt man hin. Nicht alles, etwa was er zum Thema Irakkrieg und Islamismus gesagt hat, halte ich für 100-prozentig richtig, aber es ist immer voller Beobachtung, voller präziser Argumentation, sodass man es schwer hat, richtiggehend nein zu sagen. Und das ist doch was, was will man mehr von einem zeitgenössischen Autor, der sich zugleich auf eine Verantwortungsweise in die Politik einmischt, ohne sich selber an die Stelle von Politikern setzen zu wollen.

Schwarz: Liegt es vielleicht auch an der Art wie? Also er nervt ja nicht.

Thierse: Na ja, das meinte ich ja mit dem kleinen Wörtchen spielerisch, witzig, intellektuell bravourös, das kommt niemals sozusagen moralisch-schwerblütig daher, sondern immer auch leicht. Und deswegen kann man es besser goutieren als bei anderen, die sozusagen mit Kanonen gelegentlich auf Spatzen schießen.

Schwarz: Im Ausland wird Hans Magnus Enzensberger immer wieder neben Günter Grass und Jürgen Habermas genannt, gehört er möglicherweise zu einer vom Aussterben bedrohten Art oder sehen Sie bedeutende Intellektuelle der jüngeren Generation, die sich einmischen?

Thierse: Es gibt sie, aber inzwischen ist ja das Klima anders geworden. Wagt ein Autor sich auch mal in eine zeitgenössische Auseinandersetzung einzumischen, dann wird er ja gleich von einem Teil der Feuilletonisten oder der politischen Journalisten eher beschimpft und eher lächerlich gemacht. Also das fördert nicht den Mut von Intellektuellen, sich in Debatten einzumischen. Und zweitens: Es gelingt schwerer als früher, in Deutschland intellektuelle Debatten zu führen, zu fokussieren, sie zerfleddern ganz schnell. Und das ist etwas, was unserer politischen Kultur nicht unbedingt gut tut.

Schwarz: Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestags und Germanist, über Hans Magnus Enzensberger, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Herr Thierse, vielen Dank für das Gespräch!

Thierse: Auf Wiederhören!

Schwarz: Und die Kollegen vom "Radiofeuilleton" sprechen nach den 11-Uhr-Nachrichten mit dem schwedischen Schriftsteller und langjährigen Freund von Enzensberger, Lars Gustafsson.
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