Das Klavierwerk von Pierre Boulez (3/3)

Vollendete Fragmente

Zugewandt, heiter, gelassen: In seinen späten Jahren setzte sich Pierre Boulez, hier 2010 in Wien, besonders für junge Musiker ein
Zugewandt, heiter, gelassen: In seinen späten Jahren setzte sich Pierre Boulez, hier 2010 in Wien, besonders für junge Musiker ein © imago images / SKATA
Moderation: Olaf Wilhelmer · 16.01.2021
Albumblätter, Gelegenheitskompositionen, Großwerke: Im späten Schaffen von Pierre Boulez überlagern sich Anlässe und Gattungen. Spielerischer Witz und schillernde Resonanz verbindet die Stücke, die Michael Wendeberg und Nicholas Hodges interpretieren.
Mit dem Klavier beginnt es, mit dem Klavier endet es: das Schaffen von Pierre Boulez (1925-2016) ist mit diesem, "seinem" Instrument untrennbar verbunden. Nach jugendlichen Anfängen schreibt Boulez Mitte der 1940er Jahre als Schüler von Olivier Messiaen in Paris seine ersten gültigen Werke.
In schneller Folge entstehen bis in die frühen 1960er Jahre hinein Kompositionen für Klavier, die weithin beachtet und schnell zu Klassikern der Moderne werden. Ab den späten 1980er Jahren fügt Boulez seinem Œuvre noch einzelne Klavierstücke hinzu – funkelnde Virtuosenmusik aus dem Geist der Avantgarde.
Echos einer Epoche: Der Pianist und Dirigent Michael Wendeberg durchmisst mit allen Klavierwerken von Pierre Boulez einen Zeitraum von 60 Jahren
Echos einer Epoche: Der Pianist und Dirigent Michael Wendeberg durchmisst mit allen Klavierwerken von Pierre Boulez einen Zeitraum von 60 Jahren© Magdalena Hoefner / karstenwittmusikmanagement
Seit vielen Jahren setzen sich Pianisten mit diesem Repertoire auch im Aufnahmestudio auseinander. Im Umfeld des 5. Todestages von Pierre Boulez am 5. Januar 2021 ist eine neue Gesamteinspielung aller Boulezschen Klavierwerke erschienen, die Michael Wendeberg in einer Koproduktion von Deutschlandfunk Kultur, dem Label bastille musique und dem Pierre Boulez Saal aufgenommen hat. In den "Structures" für zwei Klaviere gesellt sich Nicolas Hodges als Duopartner dazu.
Mit dieser Produktion liegt nun Boulez‘ gesamtes Schaffen für Klavier – von den nicht zur Aufführung freigegebenen Jugendwerken abgesehen – in einer Interpretation vor, die Wendeberg noch gemeinsam mit dem Komponisten erarbeiten konnte. In den Jahren 2000 bis 2005 gehörte der Pianist und Dirigent dem von Boulez begründeten Ensemble intercontemporain in Paris an; heute ist er Chefdirigent der Oper an den Bühnen Halle und Professor für Klavier und Kammermusik an der Barenboim-Said-Akademie Berlin.

Werk und Wege

Auch wenn das Klavierwerk von Pierre Boulez zu den Klassikern der Musik nach 1945 gehört, trägt diese Einspielung nicht nur Bekanntes zusammen: Michael Wendeberg hat das Projekt mit philologisch geschärftem Blick vorbereitet und im Nachlass des Komponisten Material erschlossen, das weit mehr als eine Fußnote darstellt. In den beiden ersten Folgen dieser dreiteiligen Reihe waren Varianten und Ergänzungen zur Ersten und Dritten Klaviersonate zu hören, die vom bislang Bekannten weit abwichen.
In dieser abschließenden Sendung werden unterschiedliche Wege durch den zweiten Teil der "Structures" für zwei Klaviere demonstriert, und mit dem "Fragment d’une ébauche" erklingt ein bislang kaum beachtetes Stück. Boulez schenkte es 1987 dem befreundeten Forscher Jean-Marie Lehn, als dieser den Nobelpreis für Chemie erhielt.
Charakterköpfe der neuen Musik: Pierre Boulez (l.) 2009 in Paris im Gespräch mit dem Pianisten Maurizio Pollini, einem erfahrenen Interpreten seiner Klaviermusik
Charakterköpfe der neuen Musik: Pierre Boulez (l.) 2009 in Paris im Gespräch mit dem Pianisten Maurizio Pollini, einem erfahrenen Interpreten seiner Klaviermusik© imago images / Leemage
Nach einem Vierteljahrhundert war mit diesem kurzen Stück der Bann gebrochen: So lange hatte Boulez davor nichts mehr für Klavier komponiert, hatte sich – parallel zu seiner Tätigkeit als Dirigent – mehr der Ensemble- und Orchestermusik zugewandt. Doch als ihn 1994 der Auftrag erreichte, für einen Klavierwettbewerb – dessen Jury Maurizio Pollini vorstand – ein Pflichtstück zu komponieren, konnte er nicht wiederstehen. Der kurze Satz "Incises" wuchs daraufhin zu einem langen Ensemblestück heran.
Und als Boulez zehn Jahre später um einen Beitrag für eine pädagogische Sammlung von Klavierstücken gebeten wurde, sagte er ebenfalls zu – und schuf mit "une page d’éphéméride" ein kurzes Vermächtnis mit langem Nachhall.
Pierre Boulez: Sämtliche Klavierwerke (3/3)
Reifer Stil und fragmentarisches Spätwerk
"Structures" pour deux pianos, deuxième livre (1956-61)
"Structures" pour deux pianos, deuxième livre: Alternativ-Variante (1956-61)
"Fragment d’une ébauche" für Klavier (1987)
"Incises" für Klavier (1994 / 2001)
"Une page d’éphéméride" für Klavier (2005)

Michael Wendeberg, Klavier
Nicolas Hodges, Klavier

Koproduktion: Deutschlandfunk Kultur, bastille musique & Pierre Boulez Saal 2018-2020
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