Das Klavierwerk von Pierre Boulez (2/3)

An der Grenze des Fruchtlandes

Komponist mit zwei Gesichtern: Auf seine entweder sehr strengen oder sehr freien Werke der 1950er Jahre blickte Pierre Boulez, hier Mitte der 1980er Jahre, skeptisch zurück
Komponist mit zwei Gesichtern: Auf seine entweder sehr strengen oder sehr freien Werke der 1950er Jahre blickte Pierre Boulez, hier Mitte der 1980er Jahre, skeptisch zurück © imago images / Leemage
Moderation: Olaf Wilhelmer · 09.01.2021
Das Klavier als Motor der musikalischen Entwicklung: In den 1940er Jahren überwand der junge Komponist Pierre Boulez nach und nach seine Vorbilder, in den 1950er Jahren überschritt er ästhetische Grenzen. Michael Wendeberg und Nicholas Hodges spielen Boulez‘ experimentelle Werke.
Mit dem Klavier beginnt es, mit dem Klavier endet es: das Schaffen von Pierre Boulez (1925-2016) ist mit diesem, "seinem" Instrument untrennbar verbunden. Nach jugendlichen Anfängen schreibt Boulez Mitte der 1940er Jahre als Schüler von Olivier Messiaen in Paris seine ersten gültigen Werke.
In schneller Folge entstehen bis in die frühen 1960er Jahre hinein Kompositionen für Klavier, die weithin beachtet und schnell zu Klassikern der Moderne werden. Ab den späten 1980er Jahren fügt Boulez seinem Œuvre noch einzelne Klavierstücke hinzu – funkelnde Virtuosenmusik aus dem Geist der Avantgarde.

Repertoire und Vermächtnis

Seit vielen Jahren setzen sich Pianisten mit diesem Repertoire auch im Aufnahmestudio auseinander. Im Umfeld des 5. Todestages von Pierre Boulez am 5. Januar 2021 erscheint nun eine neue Gesamteinspielung aller Boulezschen Klavierwerke, die Michael Wendeberg in einer Koproduktion von Deutschlandfunk Kultur, dem Label bastille musique und dem Pierre Boulez Saal aufgenommen hat. In den "Structures" für zwei Klaviere gesellt sich Nicolas Hodges als Duopartner dazu.
Mit dieser Produktion liegt nun Boulez' gesamtes Schaffen für Klavier – von den nicht zur Aufführung freigegebenen Jugendwerken abgesehen – in einer Interpretation vor, die Wendeberg noch gemeinsam mit dem Komponisten erarbeiten konnte. In den Jahren 2000 bis 2005 gehörte der Pianist und Dirigent dem von Boulez begründeten Ensemble intercontemporain in Paris an; heute ist er Chefdirigent der Oper an den Bühnen Halle und Professor für Klavier und Kammermusik an der Barenboim-Said-Akademie Berlin.
Für ihn haben sowohl die strengen als auch die freien Werke von Pierre Boulez den Rang von Klassikern: Der Pianist und Dirigent Michael Wendeberg
Für ihn haben sowohl die strengen als auch die freien Werke von Pierre Boulez den Rang von Klassikern: Der Pianist und Dirigent Michael Wendeberg© Magdalena Hoefner / karstenwittmusikmanagement
Diese Einspielung trägt indes nicht nur Bekanntes zusammen: Michael Wendeberg hat das Projekt mit philologisch geschärftem Blick vorbereitet und im Nachlass des Komponisten Material erschlossen, das weit mehr als eine Fußnote darstellt. In der zweiten Folge dieser dreiteiligen Reihe ist zusätzliches Material zur Dritten Klaviersonate (1955-57 ff.) zu hören, die Boulez als Fragment hinterließ – vermutlich, weil er mit den vielen kleinen Freiheiten, die er seinen Interpreten in diesem "offenen Kunstwerk" einräumte, ebenso zu kämpfen hatte wie mit den drucktechnischen Problemen einer sehr ambitionierten Notengrafik.

Ordnung und Zufall

Zu Beginn präsentiert diese Sendung einen entgegengesetzten Entwurf: Mit dem ersten Teil der "Structures" geriet Boulez in den frühen 1950er Jahren an den Rand des Komponierbaren – er war, wie er es mit den Worten Paul Klees sagte, "An der Grenze des Fruchtlandes" angekommen.
Die Aufgabe des Komponisten wurde in den "Structures" durch eine mathematisch durchorganisierte Musik genauso in Frage gestellt, wie es dann in der Dritten Sonate durch die Freiheit des Interpreten geschehen sollte. Später hat Boulez beide experimentellen Wege – den der Ordnung und den es Zufalls – wieder verlassen. Aber es ist ein großes Hör-Abenteuer, ihm heute auf diesen Wegen zu folgen.
Pierre Boulez: Sämtliche Klavierwerke (2/3)
Die experimentelle Zeit
"Structures" pour deux pianos, premier livre (1952)
Troisième sonate pour piano (1955-1957)
Troisième sonate pour piano: weitere Fragmente – Ersteinspielung (1955-1957)

Michael Wendeberg, Klavier
Nicolas Hodges, Klavier

Koproduktion: Deutschlandfunk Kultur, bastille musique & Pierre Boulez Saal 2018-2020
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