Das jüdische Erbe der Rhein-Städte

Speyer, Mainz und Worms stellen UNESCO-Welterbeantrag

Alte Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof in Mainz
Der "Judensand" in Mainz gehört zu den ältesten jüdischen Friedhöfen Europas. © picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen
Von Anke Petermann · 29.01.2019
Die Städte Mainz, Speyer und Worms machen sich Hoffnung auf den Weltkulturerbe-Titel, auch aufgrund ihrer jüdischen Kulturschätze: Vom 11. Jahrhundert an ließen sich immer mehr Juden in den Städten nieder, machten sie zu reichen Handelszentren.
"Es gibt jenseits der Shoah eine jüdische Geschichte." Und die Wurzeln des mitteleuropäischen Judentums sieht Peter Waldmann im Gemeindebund SchUM. "Das ist keine Harmoniegeschichte, das ist auch keine Geschichte des wunderbaren Lebens zwischen Juden und Christen", präzisiert der stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Doppel-Gemeinde Mainz-Worms.
"Aber es ist die Kulturgeschichte eines Reichtums, die sich bis ins Jahr 1945 und später hinaus natürlich auch erstreckt." Der Judenhof von Speyer, hebräisch Schpira, nur ein paar Schritte vom romanischen Dom des 11. Jahrhunderts entfernt. 1084 lud Bischof Rüdiger Juden aus aller Welt ein, versprach ihnen Sicherheit, verpachtete ihnen Land, gewährte ihnen eine eigene Gemeindeverwaltung und Rechtsprechung.
"In meinem Bestreben, aus der Kleinstadt Speyer eine Weltstadt zu machen, glaubte ich, die Ehre unseres Ortes durch die Ansiedlung von Juden tausendfach zu mehren." So entstand die jüngste jüdische Gemeinde im SchUM-Verband Speyer-Worms-Mainz. Das kleine Museum SchPIRA eröffnete 2010 und konserviert Kapitelle, Fliesen und Grabsteine, die kurz zuvor archäologisch untersucht und geborgen worden waren. Es fungiert als Entree zum Judenhof mit den aufragenden Mauern der romanischen Synagoge, samt "Frauenschul". Neben der Ruine: das wieder freigelegte weitgehend vollständige rituelle Bad.
Bronzeplastik von Wolf Spitzer: "Die Weisen von Speyer" im Innenhof des Museums SchPIRA in Speyer.
Die Bronzeplastik "Die Weisen von Speyer" von Wolf Spitzer im Innenhof des Museums SchPIRA.© Anke Petermann
Die Mikwe von 1120 - das älteste jüdische Ritualbad nördlich der Alpen. Auf unregelmäßigen Stufen geht man zehn Meter tief unter die Erde Richtung Grundwasser – vorbei an einem Saal mit Kreuzgratgewölbe und Umkleide-Kammer an der Seite – weiter hinab zum mannsgroßen Tauchbecken in rotem Stein.
Dass die Sandstein-Kapitelle und Bogenfenster – wie in Worms auch – denen des nahen romanischen Doms ähneln – kein Zufall: Handwerker der Dombauhütte errichteten und verzierten auch die jüdischen Stätten. Doch schon 1096, während des Ersten Kreuzzugs überfielen christliche Glaubenskämpfer die zu Ungläubigen erklärten Juden auch in den SchUM-Städten – nur das erste in einer Reihe von Pogromen.
Die SchUM-Tradition entwickelte sich "im Schutz" der drei romanischen Kathedralen und mächtigen Kirchenfürsten, heißt es oft. Matthias Untermann formuliert es anders. Am Rande einer Mainzer Vortragsveranstaltung zum Welterbe-Antrag sagt der Heidelberger Professor für mittelalterliche Kunstgeschichte:
"Diese jüdischen Gemeinden spielen eine ganz große Rolle bei der Stadt-Werdung, bei der Urbanisierung dieser Bischofsstädte. Und auch das ist ein Element, dass beispielsweise diese jüdischen Friedhöfe außerhalb der Städte angelegt werden."

Gräberfelder sind nicht frei zugänglich

In Mainz liegt der alte jüdische Friedhof "Judensand" heute unscheinbar hinterm Hauptbahnhof, umgeben von Maschendraht. Anke Sprenger schließt das Tor auf und lässt eine Besuchergruppe ein: Gästeführer auf einer Fortbildungsexkursion der Regionalakademie Pfalz. Die Kunsthistorikerin deutet über das baumbestandene Gelände am Hang. "Dieses aufgelassene römische Gräberfeld, das wurde der jüdischen Gemeinde zugewiesen, als sie sich hier begründete, Ende des 10. Jahrhunderts."
Die ursprüngliche Friedhofsanlage ist nicht erhalten. Nur weiter oben am Hang auf dem sogenannten Denkmalfriedhof stehen noch mittelalterliche Grabsteine, allerdings nicht über den historischen Gräbern. "Stopp", signalisiert die Exkursionsleiterin ihrer Gruppe. "Wir dürfen auf diesem Denkmalfriedhof nicht weiter gehen, weil wir hier nicht wissen, wo noch Begrabene liegen. Weil man dieses Friedhofsareal hier erst später im 19. Jahrhundert hinzugekauft hat, aber gar keine Grabsteine mehr hier standen."
Diese waren bei Vertreibungen und Pogromen verstreut und teilweise in Fundamente eingebaut worden. Bei späteren Bauprojekten wurden sie geborgen und kamen zunächst ins Depot. 1926 ließ sie ein Mainzer Archäologe und Rabbiner wieder aufstellen – auf dem Museumsfriedhof. Wie aber erschließt man ein nicht zugängliches Areal als potenzielles Weltkulturerbe für den Zuwachs an Besuchern, den dieser Status wohl mit sich bringt? Im Gespräch ist, erläutert Sprenger den Gästeführern, "eine Aussichtsplattform, sodass man von oben auf den Friedhof schauen kann, ohne dass man den Schlüssel auch erfragen muss, dann kann der Friedhof auch geschlossen bleiben, mit dieser Plattform, die dann vielleicht jederzeit zugänglich sein könnte."

Exkursionsteilnehmer Wolfgang Finck fragt sich aber, ob der Besuch einer Plattform Besucher aus aller Welt zufriedenstellt. "Ich arbeite als Gästeführer und bin von einer Reederei gebeten worden, mich ein bisschen gedanklich darum zu kümmern, aber die haben natürlich auch ein Interesse, den Gästen etwas über diese sehr populär werdende Idee zu erzählen."
Ideen wie die des Gershom ben Jehuda. Im Jahr Tausend verordnete er jüdischen Männern die für Frauen ohnehin geltende Monogamie. "Leuchte der Diaspora" nannte man ihn. Wird Touristen ein Blick auf Gershoms Gedenkstein aus der Ferne reichen, sorgt sich der rheinhessische Gästeführer Wolfgang Finck. Ein Konzept muss her, findet Kunstgeschichtsprofessor Untermann.
"Man kann sich auch bei einer Mikwe in Speyer oder in Worms nicht vorstellen, dass man mit 50 Menschen aus einem Omnibus dort hineingeht, denn so viele Menschen passen dort nicht hinein. Also, man wird für alle diese Stätten ein Konzept entwickeln müssen, dass man etwas über die Stätten erfährt, dass man sie sehen kann, dass man sie in einer gewissen Form erfahren kann, ohne drüber laufen zu müssen. Es gibt noch mehr Welterbe-Stätten, bei denen das schwierig ist, die zu klein sind oder die aus religiösen Gründen nicht betreten werden können, da sind wir keine Ausnahme."
Ein Mann fotografiert einen Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Mainz.
Bis zum Gedenkstein und nicht weiter. Ab hier ist das Betreten des Friedhof nicht gestattet.© Anke Petermann

Juden "brachten Kontakte in den Orient"

Zurück zur Historie: Vielleicht ließ sich Speyers Bischof Rüdiger von seinen Amtsbrüdern in den älteren SchUM-Städten Mainz und Worms dazu inspirieren, Juden einzuladen. In Mainz hatte Bischof Willigis das schon ein Jahrhundert zuvor getan, erklärt Anke Sprenger. Die Kunsthistorikerin hat ihre Exkursionsteilnehmer zum Mainzer Markt geführt und blickt hoch zur mächtigen Kathedrale. Die war noch im Bau, als sich im Jahr 990 die namhafte Familie Kalonymos hier ansiedelte und eine jüdische Gemeinde gründete.
"Der Dom markiert tatsächlich den Beginn der jüdischen Gemeinde hier. Krönungsstätte des Erzbischofs, der unglaublich mächtig war, weil er Vertreter des Papstes war und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches und ein riesiges Territorium verwaltete. Um seine Macht zu stärken, hat er die jüdische Gemeinde hier angesiedelt. Gerade hier, wo der Markt sich befindet. Und die Juden sich besonders dadurch auszeichneten, dass sie Kontakte hatten in den Orient. Sie konnten also bestimmte Waren bringen, zu denen man sonst kaum Zugang hatte, bestimmte Stoffe, bestimmte Gewürze. Das waren viele exotische Waren, die den Mainzer Markt auch attraktiv machen konnten."
Gästeführer Dorothee Gries und Wolfgang Finck mit Exkursionsleiterin Anke Sprenger vor dem Mainzer Dom.
Auf den Spuren des jüdischen Erbes: Gästeführer Dorothee Gries (l) und Wolfgang Finck (r) mit Exkursionsleiterin Anke Sprenger (Mitte) vor dem Mainzer Dom.© Anke Petermann
Anders als in Mainz ist der jüdische Friedhof in Worms komplett erhalten, als ältester in Europa. Manche halten den "Heiligen Sand" mit seinen 2000 Grabsteinen allein für welterbewürdig. "Es gab immer wieder Zerstörungen", weiß Gästeführer Rolf Jochum.
"Trotzdem ist es ein Friedhof, der bis in die heutige Zeit überdauert hat. Hier darf der Mensch eigentlich nicht eingreifen. Hier darf nur geschehen, was der Herr möchte. Deswegen dürfen Grabsteine auch nicht hergerichtet werden. Wenn es verwittert, verwittert es, wenn sie versinken, dann versinken sie. Das ist der Plan des Herrn."
Jochum deutet auf Steine und Zettel mit hebräischen Schriftzeichen auf den bemoosten Grabmalen. Sie zeugen davon, dass Pilger-Reisende die mittelalterlichen Gelehrten bis heute verehren – und Worms selbst als den Ort, wo sie lernten und dozierten.
"Klein-Jerusalem am Rhein – damit zeigt man eine Ehrerbietung auch, weil die Gelehrten hier waren, weil hier Ausbildungsstätten waren, gerade im Mittelalter, eine bedeutende Talmudschule, die wir hier hatten. Der bedeutendste Talmud-Kommentator Raschi hat hier studiert in der Zeit um 1060."

Kein Gemeinschaftsantrag mit Erfurt

Das einzigartig verwobene Bau-Ensemble am Rhein als Rahmen für eine zusammenwirkende jüdische Gelehrten-Elite – genau das macht diesen Gemeindebund welterbewürdig. Da sind sich die SchUM-Forscher Untermann und Cluse einig.
"In dieser engen Verknüpfung finden wir das anderenorts selten. Und wenn man das Beispiel Prag nimmt: Wir finden es nicht so früh - nicht so deutlich."
"Erfurt hat beispielsweise kein echtes Gemeindezentrum, sondern die Bauten liegen verteilt in der Stadt, und in Köln sind die Dinge nur archäologisch erhalten. Aber dass die Dinge noch stehen, das ist das, was in Speyer und Worms sie tatsächlich einzigartig macht."
Den rheinland-pfälzischen Kulturminister Konrad Wolf von der SPD hat diese Wissenschaftsmeinung darin bestärkt, "für diese drei Gemeinden einen Einzelantrag zu stellen und nicht auch noch auf andere Facetten der jüdischen Kultur in Deutschland oder Europa zu verweisen, von denen es ja viele gibt".
Kein Gemeinschaftsantrag mit Erfurt also. 2017 trennten sich die Wege. Anlass zum Streit sieht der Trierer Historiker Christoph Cluse darin aber nicht: "Wir hoffen alle sehr, dass beide Anträge durchkommen."
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