"Das ist eine schwere Belastung für die Präsidentschaft Ungarns"

Martin Schulz im Gespräch mit Britta Bürger · 23.12.2010
Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, fordert, die ungarische Regierung wegen des neuen Mediengesetzes wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Wer die Solidarität bei den Grundwerten aufkündige, könne auch keine Solidarität auf anderen Ebenen erwarten.
Britta Bürger: Ungarns neues Mediengesetz sorgt für große Aufregung in Europa. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat die EU-Kommission dazu aufgerufen, unverzüglich gegen das neue Mediengesetz vorzugehen, das gegen den Geist und die Worte der EU-Verträge verstoße. Europaabgeordnete fordern die umgehende Rücknahme des Gesetzes, bevor Ungarn am 1. Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Was aber kann Europa tatsächlich tun gegen ein Mitglied, das die Pressefreiheit mit Füßen tritt? Darüber möchte ich mit Martin Schulz sprechen, dem Vorsitzenden der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament. Er ist zugleich Europabeauftragter der SPD. Guten Morgen, Herr Schulz!

Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Bürger!

Bürger: Ist dieses Mediengesetz vereinbar mit Ungarns EU-Ratspräsidentschaft, die ja am 1. Januar beginnt? Ist Ungarn unter diesen Bedingungen würdig, die EU zu führen?

Schulz: Nach meiner Meinung nicht. Ich habe das Herrn Orbán auch schon vor wenigen Wochen, als dieses Gesetz im Entwurf ins Parlament gebracht wurde, gesagt, das ist eine schwere Belastung für die Präsidentschaft Ungarns, eine Ratspräsidentschaft der EU, ist verpflichtet, die Grundwerte der EU zu verteidigen. Ungarn ist gerade dabei, sie zu zerstören. Das ist sicher eine schwere Belastung, und ich glaube auch nicht, dass diese Regierung das durchhalten kann.

Bürger: Das Gesetz erlaubt es dem regierungstreuen Medienrat, private Medien und Internetseiten mit Geldbußen zu bestrafen, wenn die Berichterstattung als unausgewogen eingestuft wird. Man muss sich jetzt den Rahmen vorstellen: Geldbußen von bis zu 730.000 Euro. Warum hat die EU überhaupt zugeguckt, wie dieses Gesetz verabschiedet werden konnte? Man hätte ja schon vorher noch mehr als appellieren können, noch mehr Druck ausüben können.

Schulz: Das ist nur bedingt möglich. Zunächst mal ist Ungarn nach wie vor ein souveränes Land, das seine Gesetzgebung im Rahmen seiner eigenen verfassungsrechtlichen Strukturen vornimmt, und das zusätzliche Problem, das entstanden ist, ist, dass seit der letzten Wahl Herr Orbán im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit mit seiner Partei verfügt, das gibt es in keinem anderen Land Europas. Das heißt, er ist nicht nur in der Lage, Gesetze durchzubringen, sondern auch die Verfassung zu verändern, was er übrigens täglich unbemerkt tut. Es gibt eine Reihe von Leuten – ich gehöre dazu –, die seit geraumer Zeit, eigentlich seit dem Amtsantritt von Herrn Orbán vor allen Dingen die christdemokratischen Kolleginnen und Kollegen bitten, Einfluss auf Herrn Orbán zu nehmen, denn Herr Orbán ist ein doch relativ einflussreicher Führer der Europäischen Volkspartei, also des Zusammenschlusses der christdemokratischen Parteien. Und deshalb war ich froh, dass sich zum ersten Mal mit Frau Merkel gestern jemand aus dieser Parteienfamilie vorsichtig kritisch aber immerhin geäußert hat.

Bürger: Welche anderen Möglichkeiten hat die EU-Kommission denn jetzt, über Appelle hinaus gegen ein Mitglied vorzugehen? Sie sagen, die handeln souverän. Sie selbst haben Budapest große Probleme angedroht. Was müssen wir uns vorstellen unter dieser Formulierung, große Probleme?

Schulz: Es gibt den Artikel 7, Sie haben ja eben ein Interview mit meinem Kollegen Cohn-Bendit eingeblendet, der Artikel 7 ist derjenige, der auf die unbedingte Einhaltung der zivilen Grundrechte verweist. Die Europäische Union ist eine Staatengemeinschaft, eine Rechtsgemeinschaft, die sich auf die Einhaltung der Grundrechtecharta der EU verpflichtet hat. In dieser Grundrechtecharta ist die uneingeschränkte journalistische Arbeitsfreiheit, also die Freiheit der Medien, frei von Druck, Zensur und Einfluss arbeiten zu können, als Grundrecht verbrieft. Und ein Angriff auf dieses Grundrecht findet zurzeit statt.

Wenn aber ein Mitgliedsstaat ein solches Grundrecht verletzt, dann kann die Gemeinschaft der anderen Staaten vorgehen. Und deshalb: Ein doppelter Schritt ist notwendig. Die Kommission in Form der Kommissarin Reding – die zum Beispiel bei der Roma-Frage gegenüber Frankreich relativ taff aufgetreten ist, ich bin erstaunt, dass sie jetzt so schweigsam ist –, Frau Reding könnte jetzt ein solches Prüfverfahren, Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Es kommt aber am Ende nicht auf die Kommission an.

Ich glaube, wir müssen hier ziemlich Klartext reden. Die 26 anderen Regierungschefs in Europa müssen Herrn Orbán sagen, hör mal, Kollege, so kann das nicht laufen. Wir haben es aber bedauerlicherweise mit einigen der Regierungschefs noch zu tun, die in ihren Ländern ganz fröhlich auf dem gleichen Weg sind wie Herr Orbán in Ungarn, nicht gerade so brutal, aber in der Tendenz der Überwachung unliebsamer Medien in die gleiche Richtung. Deshalb wird das sicher im Rat zunächst einmal nicht geschehen, im Rat der Regierungschefs, und Sie können sicher sein, wir werden im Europaparlament schon zu Jahresbeginn – Herr Orbán wird in der zweiten Januarwoche ins Europaparlament kommen müssen, um seine Präsidentschaftserklärung abzugeben –, da werden wir dem schon den entsprechenden Druck machen.

Bürger: Angenommen, die EU würde Ungarn das Stimmrecht entziehen, dann müsste das Land vermutlich auch als Ratspräsident zurücktreten?

Schulz: Meine Erfahrung lehrt mich, dass dieser Druck immer nur das Gegenteil bewirkt. Orbán ist ein international erfahrener Mann, und er weiß, wie er reagieren muss. Ich werde Ihnen voraussagen, was passiert. Wenn wir mit Sanktionen drohen, dann wird das als Angriff auf das Ungarntum interpretiert. Die Politik der Fidesz und der rechtsextremistischen Jobbik-Partei in Ungarn – da ist ja eine neofaschistische Partei mit fast 17 Prozent ins Parlament gewählt worden, die kommen zu den zwei Dritteln rechtskonservativen Leuten des Herrn Orbán noch dazu. Das wird sofort mit einer nationalistischen Gegenbewegung beantwortet werden.

Ich habe eine ganz andere Vorgehensweise vorzuschlagen: Herr Orbán ist ein Ministerpräsident, der in einer Finanzsituation ist, die man mal so beschreiben will: Griechenland, Irland, Spanien und Ungarn, Ungarn gehört nur der Eurozone nicht an, ist aber, was die Staatsfinanzen angeht, unter extremem Druck. Also man müsste Herrn Orbán ziemlich klar sagen: Wer sich so verhält wie du und die Solidarität bei den Grundwerten aufkündigt, kriegt auch keine Solidarität auf anderen Ebenen. Das wirkt erfahrungsgemäß mehr.

Bürger: Mitten in Europa ist die Pressefreiheit mehr und mehr bedroht, jüngstes Beispiel liefert Ungarn mit seinem umstrittenen Mediengesetz, aber auch Italien und Frankreich geben immer wieder Anlass zur Sorge, Thema unseres Gesprächs hier im Deutschlandradio Kultur mit dem sozialdemokratischen Europapolitiker Martin Schulz. Sie haben sich ja, Herr Schulz, der Fall ist legendär, schon einmal mit Italiens Ministerpräsident Berlusconi richtig angelegt, als Sie dessen Doppelfunktion als Regierungschef und Medienunternehmer kritisiert haben. Berlusconi hatte Ihnen damals vorgeschlagen, doch die Rolle das Kapo in einem KZ-Film zu übernehmen. Sie haben also zu spüren bekommen, wie kalt der Wind ist, der einem ins Gesicht schlagen kann. Was haben Sie aus diesem Fall gelernt, hat er sie ermutigt oder doch auch vorsichtiger und diplomatischer gemacht?

Schulz: Im Gegenteil, der Fall hat mich über viele Jahre geärgert, und zwar nicht wegen der Beleidigung, sondern wegen der Nicht-zur-Kenntnisnahme des Hintergrunds der Wut von Herrn Berlusconi. Ich habe vor sieben Jahren darauf hingewiesen, dass mit diesem Mann die höchstmögliche ökonomische Macht – er ist nämlich der reichste Mann des Landes – sich mit der höchstmöglichen Medienmacht – er ist der größte Medienunternehmer des Landes – und der höchstmöglichen politischen Macht – er ist der Regierungschef – in einer Hand kombiniert, und ich habe damals gesagt, das ist für die Demokratie verheerend. Das Ganze, was ich über Jahre geerntet habe dabei, ist die belustigte Nachfrage, ob ich ihn dafür bezahlt hätte, dass er so ausgeflippt ist und mich zu einem berühmten Mann gemacht hat.

Keiner, auch die meisten Journalistinnen und Journalisten, haben sich für den Hintergrund interessiert. Und das ist etwas, was ich für dramatisch halte, weil in dieser Grauzone von Politik und Journalistik blüht eine Kultur in Europa der Boulevardisierung der Politik, schauen Sie sich Frankreich an, im ersten Amtsjahr von Sarkozy haben die Medien vorwiegend über Letizia und im zweiten halben Jahr über Carla Bruni berichtet, aber weniger über seine soziale Kahlschlagpolitik. Wenn aber das getan wurde, wurde aus dem Elysée direkt in Redaktionsstuben interveniert und unliebsame Journalisten entfernt. Warum? Die Großunternehmer in Frankreich, deren ... die großen Medienunternehmer in Frankreich sind die Hauptsponsoren von Nicolas Sarkozy. Und da werden Redaktionen geradezu gleichgeschaltet.

Die Reaktionen der letzten sieben Jahre kamen sehr spät, auch aus journalistischen Kreisen, das muss ich einfach mal kritisch sagen, und die Situation ist jetzt langsam so weit, weil ein Mann wie Orbán sich ermutigt fühlt, das, was Berlusconi und Sarkozy noch diskret aus Ihren Regierungszentralen oder aus ihren Medienzentralen heraus machen können, nämlich die Gleichschaltung von Journalisten, das macht er jetzt brutal mit parlamentarischer Mehrheit. Und das heißt, in diesen sieben Jahren ist seit dieser Berlusconi-Welle passiert, dass Regierungschefs es sich erlauben können, in einem demokratischen Rechtsstaat Journalisten unter Druck zu setzen.

Bürger: Reporter ohne Grenzen hat in seinem Jahresbericht auch deutlich hervorgehoben, dass es in mehreren europäischen Ländern zunehmend Einschränkungen der Pressefreiheit gibt. Brauchen wir unter Umständen neue Regelungen in der EU, die die Pressefreiheit schützen und garantieren? Sehen Sie da irgendwelche Lücken?

Schulz: Ich sehe eine ganz schwerwiegende Lücke, nämlich die Unvereinbarkeit von politischen Ämtern mit dem Besitz an Medienunternehmen. Ich glaube, dass das der erste Schritt ist. Auch das Verbot, dass Medienunternehmen Politiker sponsern können, also die Spenden von Medienunternehmen an politische Parteien – das muss meiner Meinung nach verboten werden. Schauen Sie sich an, wer in Frankreich den Präsidentschaftswahlkampf finanziert.

Ich glaube, wir brauchen eine Entflechtung von medialer Welt und politischer Welt, und wir brauchen ganz einfach ein grundsätzliches Bewusstsein dafür – das sage ich auch als jemand, der jeden Tag mit Journalisten arbeiten muss als Politiker: Wenn wir Demokratie ernst nehmen, dann müssen wir als Politikerinnen und Politiker uns über eins im Klaren sein: Journalisten sind nicht die angenehmsten Menschen bei ihrer Aufgabe, die ist, uns, den Politikern, auf die Finger zu schauen. Aber wenn wir sie daran hindern würden, dann würden wir die Axt an die Wurzel der Demokratie legen. Deshalb: Der Schutz von Journalistinnen und Journalisten muss eigentlich eine Politikerpflicht sein, und nicht umgekehrt der Schutz vor Politikern eine Aufgabe der Journalisten. Also im demokratischen Rechtsstaat müssen Politiker durch die Medien kontrolliert werden und nicht umgekehrt.

Bürger: Auch in der Europäischen Union ist die Pressefreiheit in Gefahr. Martin Schulz, Vorsitzender der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, fordert klare Konsequenzen. Ich danke Ihnen, Herr Schulz, für das Gespräch!

Schulz: Danke auch, Frau Bürger! Frohe Weihnachten!

Bürger: Wünsche ich Ihnen auch!

Schulz: Danke, tschüss!
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