"Das ist eine Gratwanderung"

Andi Rogenhagen im Gespräch mit Susanne Führer · 07.07.2011
Das Tourette-Syndrom wurde mit einem Coach eingeübt, die Generalprobe fand als öffentliches "Ticken" in der Hamburger U-Bahn statt - für Regisseur Andi Rogenhagen waren die Vorbereitungen zu seinem Film "Ein Tick anders" etwas Besonderes.
Susanne Führer: Vanja Budde über den Film "Ein Tick anders" von Andi Rogenhagen, der heute in die Kinos kommt. Und der Regisseur ist uns nun zugeschaltet aus einem Studio in Osnabrück. Guten Tag, Herr Rogenhagen!

Andi Rogenhagen: Hallo, schönen guten Tag!

Führer: Tja, das Tourette-Syndrom, also dieses wilde Fluchen, ein bisschen Zucken, das ist doch eigentlich die Krankheit für eine Filmkomödie, oder?

Rogenhagen: Es waren tatsächlich für mich strategische Überlegungen, das zu benutzen, weil ich eigentlich über das Gefühl erzähle, was jeder Mensch kennt, auch der, der nicht von der Krankheit betroffen ist, wenn man die Tür aufmacht und die Leute einen sehen, und man denkt, oh Gott, jetzt gucken die alle, und Scham empfindet und so weiter. Dann habe ich lange geguckt und recherchiert, was für eine Krankheit ich da sozusagen nehmen kann, um das auf eine sehr cineastische Art und Weise zu erzählen, und da bin ich halt aufs Tourette-Syndrom gestoßen. Aber was mir auch extrem wichtig war die ganze Zeit – deshalb habe ich mich auch beraten lassen von Betroffenen – ist, dass ich da niemanden lächerlich mache, sondern dass wir am Ende mit der Eva lachen und nicht über sie.

Führer: Haben Sie sich denn mit Betroffenen getroffen?

Rogenhagen: Ja. Ich hatte mich mit dem Christian Hempel getroffen in Lüneburg. Der Mann ist selbst Tourette-Betroffener und der hat das Drehbuch eigentlich die ganze Zeit über begleitet, hat mich auch immer bestärkt darin, eine Komödie zu machen. Ich habe ihn sehr früh getroffen mit einer ganz frühen Fassung, 2007, und ich glaube, wenn er da gesagt hätte: Nein, das kannst du nicht machen, oder lass die Finger davon - ich glaube, dann wäre das Projekt auch sehr früh eingestampft worden. Aber das war nicht der Fall und deshalb haben wir weiter gemacht.

Führer: Also, ein bisschen Angst hatten Sie schon, dass es Ihnen ausgelegt werden könnte, dass man jetzt über Behinderte lacht.

Rogenhagen: Ja, natürlich, das ist eine Gratwanderung, von der ich wusste, dass ich die gehen werde, und dass mir das Ding auch um die Ohren fliegen kann – und da war ich natürlich auch extrem vorsichtig und auch sehr genau, um das zu verhindern. Habe dann auch noch ein bisschen Glück gehabt mit der Hauptdarstellerin …

Führer: Zu der kommen wir gleich noch. Ich will noch mal zurück zu der Frage mit den Betroffenen. Heute kommt ja der Film in die Kinos, aber haben Sie vorher vielleicht so Probevorführungen gemacht vor den Betroffenen? Wie haben die reagiert?

Rogenhagen: Wir haben die Vorsitzenden der deutschen Tourette-Gesellschaft zu unserer Premiere nach Hamburg eingeladen. Die haben vorher aber auch schon ein Preview gehabt, auch mit Betroffenen, und die haben sehr positiv auf den Film reagiert, die fanden den ganz toll!

Führer: Sicher nicht zuletzt wegen der eben wirklich großartigen Hauptdarstellerin, der erst 22-jährigen Jasna Fritzi Bauer. Wie haben Sie die denn aufgetrieben? Die ist doch noch Schauspielschülerin eigentlich?

<im_68220>NUR FÜR FILMSTART Jasna Fritzi Bauer als Eva Strumpf</im_68220>Rogenhagen: Ich hatte ein sehr intensives Casting. Wir haben uns 40 junge Frauen zwischen 15 und 25 angeguckt, und sie hatte noch gar keine Agentur, war aber eine Empfehlung von einer Freundin der Casterin, die sagte: Guck dir die auf jeden Fall an! Und dann haben wir die sozusagen dazwischengeschoben, die stand eigentlich gar nicht auf dem Zettel – und die kam durch die Tür, und ich fand, sie hatte glatt so eine tolle Ausstrahlung. Und ich dachte: Hey, das könnte sie sein. Und dann hat sie das im Casting auch bewiesen; mit einer unglaublichen Leichtigkeit und Konzentration hat sie das hinter sich gebracht. Ja, das war auch einfach Glück. Aber ich wollte für diesen Film auch jemanden irgendwie entdecken. Ich habe schon Wert drauf gelegt, dass wir ein unverbrauchtes Gesicht finden, dass wir jemanden finden, den es einfach noch nie gegeben hat auf der Leinwand.

Führer: Und sie wird sich sicher auch mit Tourette-Erkrankten getroffen haben, um die Rolle so überzeugend spielen zu können?

Rogenhagen: Ja, sie hat sehr lange geübt tatsächlich. Wir haben also Jörn Knebel, das ist ein Theaterspieler aus Hamburg, unser Tourette-Coach, der Mann ist leidenschaftlicher Hobby-Tourettiker, wie er sagt. Er hatte mal eine Theaterrolle gespielt, er kann das wirklich sehr, sehr gut. Und wir haben die Jasna in drei Blöcken gecoacht. Im ersten Block haben wir uns angeguckt, wie sie sich bewegt und was sie so macht. Und im zweiten Block haben wir dann versucht, ihre Ticks sozusagen zu erfinden, dass wir nicht irgendwas auf sie draufpflanzen, was sie nicht ist, sondern dass wir ihre Bewegungen, ihre Art benutzen, um ihre persönlichen Ticks zu entwickeln. Und Abschlussveranstaltung war dann Hamburger U-Bahn, ticken in der Öffentlichkeit – das war wichtig für die Jasna und auch für uns, dass sie einfach mit dem Gefühl in den Dreh geht, dass ihr diese Krankheit wirklich geglaubt wird.

Führer: Vor ein paar Wochen erst hat ja der Film "Vincent will Meer" von Ralf Huettner, der ja ebenfalls sich um einen Tourette-Kranken dreht, den Deutschen Filmpreis gewonnen. Als Sie an Ihrem Film gearbeitet haben, Herr Rogenhagen, wussten Sie da eigentlich von "Vincent will Meer"?

Rogenhagen: Nein, weil wir früher angefangen haben, aber die waren früher fertig.

Führer: Dann kommen wir mal wieder zu Ihrem Film, "Ein Tick anders", das ist ja ganz offenbar eine Komödie, irgendwie auch eine Familienkomödie, so für alle. Und alle in der Familie haben Macken. Evas Macke fällt allerdings besonders auf. Aber es ist irgendwie auch dann wieder eine Coming-of-Age-Geschichte. Sie erzählt vom Erwachsenwerden einer 17-Jährigen unter vielleicht etwas speziellen Bedingungen.

Rogenhagen: Ja, es ist auf jeden Fall eine Ablösegeschichte. Ob es eine Coming-of-Age-Geschichte ist, weiß ich nicht. Es wird Zeit, dass sie ihr Nest verlässt, und eigentlich, sie kämpft ja dafür, ihr Nest zu behalten, und ihr Kampf führt ja letzten Endes dazu, dass alles ganz anders wird, nur viel besser. Ich weiß nicht, ob man es als eine Coming-of-Age-Geschichte bezeichnen kann – vielleicht, ja.

Führer: Wo Sie Nest sagen – der Film zeigt aber schon doch, dass sie eigentlich nur in einem wirklich sehr beschützten Raum gut leben kann.

Rogenhagen: Ja, es ist auch tatsächlich so, dass, je entspannter und liebevoller die Leute mit den Betroffenen umgehen, umso einfacher ist es für die. Deshalb wäre es jetzt wirklich schwer für meine Hauptfigur, jetzt die Stadt zu wechseln, was sie ja auch verhindern möchte. Aber es ist auch so – Sie sprachen vorhin von Macken –, es war mir auch wichtig beim Schreiben meines Buches, dass die Eva eigentlich – wenn man mal von ihrer Erkrankung absieht – die Normalste ist, und das war mir wichtig, dass …

Führer: Zumindest die Reifste, vielleicht.

Rogenhagen: … oder vielleicht die Reifste, ja, vielleicht abgesehen von der Oma – und das andere, was mir wichtig war, dass sie einfach auch in so einem Netz aus Liebe aufgehoben ist. Das, glaube ich, ist ganz wichtig auch für die Art des Films, die ich gemacht habe, dass das alles in einem emotionalen Band aus Liebe aufgehoben ist, weil ich glaube, sonst wäre das nur eine Aneinanderreihung von Skurrilitäten und das würde als Komödie nicht funktionieren.

Führer: Ich fand ja schön: Es ist eine Komödie und hat deswegen auch ein Happy End, was wir jetzt nicht verraten wollen, aber dass das Happy End sozusagen nicht jetzt darin besteht, dass sich die ganze Welt ändert und alle jetzt geläutert sind und jetzt gar kein Problem mehr haben, mit einer Tourette-Kranken zu tun zu haben, das hat mir ganz gut gefallen.

Rogenhagen: Ja, es ist tatsächlich so, dass es am Ende nicht so ist, dass die Krankheit geheilt ist oder so, weil die Krankheit kann man ja auch nicht heilen, oder dass jetzt die Gesellschaft sich dahingehend ändert, dass sie jetzt Tourette-Erkrankte wahnsinnig toll findet und nicht mehr schikaniert, sondern es ist eigentlich so, dass die Eva ihre Scham überwunden hat und sozusagen sie einen anderen Weg gefunden hat. Obwohl sich ihre äußere Situation geändert hat, damit zu leben. Das ist eigentlich so das Ende und auch das Ziel, finde ich. Alles andere kann man ja auch nicht ändern, nicht wirklich.

Führer: Ja, aber es ist doch schon ein Film, der ein starkes Plädoyer formuliert für mehr Toleranz gegenüber den Anderen.

Rogenhagen: Auf jeden Fall. Es ist ein Film übers Anderssein, es ist ein Film über Toleranz, ein Film über Liebe, der Film bietet auch gleich eine Gebrauchsanweisung sozusagen, so ein bisschen, wie man zu mehr Toleranz kommt. Ich glaube auch, dass er deshalb so gut funktioniert, weil die Leute – gut, es geht ja eigentlich nicht um Tourette in dem Film, sondern Tourette ist halt ein Teil des Films, aber es geht eigentlich ums Anderssein, und ich glaube, dass jeder Mensch, auch Leute, die nicht von dieser Krankheit betroffen sind, dieses Gefühl kennt und teilt.

Führer: Der Regisseur Andi Rogenhagen, heute kommt sein Film "Ein Tick anders" in die Kinos. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Rogenhagen!

Rogenhagen: Ich danke Ihnen!

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