"Das ist der Name, den die meisten Menschen kennen"

Günter Verheugen im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 05.08.2013
Dass die Europäer Bundeskanzlerin Angela Merkel für die wichtigste Politikerin in Europa halten, überrascht Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen nicht. Die Umfrage des Goethe-Instituts bestätige lediglich die Wirklichkeit: Merkel sei schließlich zur Zeit die einflussreichste Person in Europa.
Klaus Pokatzky: Wer ist der wichtigste Politiker, wer ist die wichtigste Politikerin in Europa, egal ob lebend oder aus der Vergangenheit? Das hat das Goethe-Institut für seine Europa-Liste gefragt. Angela Merkel führt mit 18 Prozent, dann kommt Winston Churchill mit 14 Prozent. Und dann, abgeschlagen mit jeweils zwischen drei und fünf Prozent, Willy Brandt, Konrad Adenauer, Charles de Gaulles, Robert Schumann, Margret Thatcher, Napoleon Bonaparte, Adolf Hitler, Helmut Kohl. Einige von denen hat Günter Verheugen in seiner jahrzehntelangen politischen Laufbahn persönlich erlebt. Er war Mitglied des Bundestages, Staatsminister im Auswärtigen Amt und von 1999 bis 2010 Kommissar der Europäischen Union. Guten Tag, Herr Verheugen!

Günter Verheugen: Guten Tag!

Pokatzky: Wenn ich Sie jetzt frage, welcher Politiker, welche Politikerin haben denn Ihrer Meinung nach am meisten für Europa getan, welchen Namen nennen Sie?

Verheugen: Wenn mit Europa gemeint ist unser Europa von heute, das Europa der europäischen Integration, dann würde ich auch sagen, Robert Schumann, Jean Monnet, Konrad Adenauer, ich würde auch Helmut Kohl nennen. Wenn die Frage weiter gefasst ist, wer hat für die Geschichte Europas das meiste bewirkt, dann würde ich sehr viel weiter zurückgehen und würde mit Cäsar und Karl dem Großen anfangen. Das hängt ein bisschen davon ab, wie man es verstehen will. Ich habe mit dieser Liste sowieso ein kleines Problem, weil ja ganz offen war die Frage, wer war der Wichtigste von den Teilnehmern dieser Umfrage, nicht einheitlich als eine positive Leistung verstanden wird. Sonst könnte nicht eine monströse, eine historische Monstrosität wie Hitler in dieser Liste auftauchen. Also, ich hätte es für besser gehalten, wenn man hier eine Liste vorgegeben hätte mit Persönlichkeiten, die einen positiven Beitrag zur europäischen Geschichte geleistet haben, dann würde nicht dieses Problem auftauchen, dass man Verbrecher neben Lichtgestalten stehen hat.

Pokatzky: Dann gebe ich Ihnen jetzt die Möglichkeit, Ihre eigene Liste zu machen, indem ich frage: Was zeichnet Ihrer Meinung nach aktuelle Politiker aus, die sich um Europa besonders verdient machen?

Verheugen: Hier wird ja Angela Merkel an erster Stelle genannt in dieser Liste, und das reflektiert die Wirklichkeit von heute auch ganz genau. Also, das zeigt, dass die Teilnehmer dieser Umfrage informiert sind und wissen, die wichtigste im Sinne von einflussreichste Politikerin in Europa ist zurzeit Angela Merkel, da gibt es gar keinen Zweifel. Das war auch mal Helmut Kohl, das war mal Winston Churchill, das geht jetzt weiter zurück. Wenn Sie die Frage stellen, wer leistet zurzeit den wichtigsten positiven Beitrag für die Weiterentwicklung Europas, dann muss ich passen.

Pokatzky: Hat Sie das mit Angela Merkel überrascht?

Verheugen: Nein, nein. Das ist einfach ein Reflex der Medienwirklichkeit, die wir haben, das ist der Name, den die meisten Menschen kennen. Es ist ja auch interessant, dass es sich keineswegs auf europäische Kernländer allein bezieht, sondern die Frage geht ja weiter, geht ja bis in den arabischen Raum. Da haben wir dasselbe Ergebnis. Das zeigt eben, dass der politische Einfluss, den die deutsche Bundeskanzlerin zurzeit hat, richtig eingeschätzt. Ob man das für gut oder für schlecht hält, ist eine ganz andere Frage, aber die Einschätzung ist richtig.

Pokatzky: Hat es Sie überrascht, dass fast jeder Zweite der mehr als 20.000 Befragten angegeben hat, Deutschland sei das Land, das Europa am meisten repräsentiert?

Verheugen: Ja, in der Tat, das ist für uns … Ich glaube, das ist für jeden Deutschen eine Überraschung, wir sehen uns ja selber nicht so. Aber es scheint so zu sein, dass die derzeitige Lage in Europa das Bewusstsein verändert hat, dass für die meisten, die auf Europa schauen, ganz klar ist, das Land, auf das man als Erstes blicken muss, ist Deutschland. Das müssen wir einfach mal als Tatbestand erkennen. Und daraus würde ich schließen, dass sich daraus für uns keine Machtposition ergibt, kein Machtanspruch, sondern eine ganz besondere Verantwortung, dieses Europa zusammenzuhalten.

Pokatzky: Was ist für Sie, Günter Verheugen, europäische Kultur?

Verheugen: Eine ganz, ganz schwierige Frage! Man erkennt europäische Kultur, wenn man weit weg ist von Europa. In der Abgrenzung sieht man das natürlich am deutlichsten, in der Abgrenzung europäischer Kultur gegenüber asiatischer, lateinamerikanischer, afrikanischer, dann erkennt man es sofort, in der bildenden Kunst, in der Literatur, selbst im Landschaftsbild und in den Ortsbildern. Wenn wir Europa selber betrachten, dann sehen wir natürlich den sehr, sehr starken Einfluss der jeweiligen nationalen Kultur, Europa ist eben nicht das Einwanderungsland wie Amerika, wir haben die sehr stark ausgeprägten nationalen Eigentümlichkeiten in Sprache, Kultur, Sitten und Gebräuchen. Aber was ich interessant finde, ist, dass in der Gegenwart, zum Beispiel in der bildenden Kunst, die Unterschiede verschwimmen. Wenn sie in einer Galerie in Berlin heute ein Bild eines jungen türkischen Malers aufhängen, könnte der genauso gut aus Frankreich oder aus Deutschland sein. Die Unterschiede sehen wir nicht mehr. Was wir auch sehen, ist, dass es bei allen Unterschieden in der europäischen Kultur große gemeinsame Linien gibt. Also die großen Kunststiele, die Gotik, die Renaissance, Barock, das alles finden Sie ja überall in Europa. Und insofern, würde ich schon sagen, ist der Anspruch gerechtfertigt, von einer europäischen Kultur zu sprechen und nicht zu sagen, Europa ist eben charakterisiert dadurch, dass wir diese vielen verschiedenen Nationalkulturen haben.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Günter Verheugen, der frühere Kommissar der Europäischen Union, in unserer Reihe Europa-Liste. Herr Verheugen, wer fehlt Ihnen noch in dieser Europäischen Union, in der Sie bis vor drei Jahren Kommissar waren?

Verheugen: Für mich ist ganz klar, dass Politik der europäischen Einigung erst verwirklicht ist, wenn jedes europäische Volk, das den Wunsch hat, daran mitzuwirken, auch daran mitwirken kann.

Pokatzky: Auch die Türkei?

Verheugen: Selbstverständlich! Die Türkei fehlt mir sogar ganz besonders. Ich will da gar nicht jetzt so weit zurückgehen in die Geschichte und darauf hinweisen, dass die ältesten Stätten der Christenheit, die wir kennen, in der Türkei liegen, sondern schlicht und einfach die politischen Realitäten hier in den Vordergrund stellen und sagen, dass für die Zukunft Europas die Türkei ein Schlüsselland ist, für die politische, wirtschaftliche Zukunft Europas brauchen wir die Türkei.

Pokatzky: Und die kulturelle vielleicht auch?

Verheugen: Nach meiner Meinung ja. Denn die Zukunft wird ganz bestimmt eine Zukunft sein, in der wir lernen müssen, verschiedene Kulturen und vor allen Dingen Kulturen mit unterschiedlichem religiösem Hintergrund zu einem gemeinsamen Verständnis vom Zusammenleben der Menschen zu bringen. Es ist vielleicht aus dem Bewusstsein zu vieler Europäer und gerade auch zu vieler Deutscher verschwunden, dass wir in der Vergangenheit schon einmal viel, viel weiter waren und dass dieses Zusammenleben von Menschen mit verschiedenem kulturellem und religiösem Hintergrund völlig normal war. Ich habe viele, viele Städte in Ost- und Mitteleuropa gesehen, die früher lebendige Zentren solchen multikulturellen Lebens waren. Das ist zerstört, weitgehend zerstört durch die Folgen der verbrecherischen Politik von Hitler, aber es ist da gewesen. Und wenn ich an den Islam denke, da haben wir ja nicht nur diesen starken islamischen Einfluss in der Balkanregion, man sollte auch nicht vergessen, dass Spanien längere Zeit ein islamisch geprägtes Land, muslimisch geprägtes Land war, als es ein christlich geprägtes Land ist.

Pokatzky: Und eine größere kulturelle Vielfalt hatte, bis 1492 dann die Muslime von der iberischen Halbinsel vertrieben waren.

Verheugen: So ist es.

Pokatzky: Die Juden lebten freier unter dem Islam.

Verheugen: Das ist vollkommen richtig. Es ist ein großer Verlust für die europäische Kultur und die europäische Geschichte, was Sie gerade mit diesem Ereignis angesprochen haben.

Pokatzky: Sie haben nach dem Ende Ihrer Amtszeit in Brüssel vor drei Jahren einen Lehrauftrag an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder angenommen. Welches war denn bisher die spannendste Frage eines Studenten, einer Studentin zu Europa, die Sie so richtig ins Grübeln gebracht hat?

Verheugen: Die spannendste Frage kommt relativ häufig, das ist immer die nach den Grenzen Europas. Diese Frage stellen Studenten immer, was sind eigentlich die Grenzen Europas. Und mir fällt es immer schwer, diese Frage zu beantworten, das ist schon geografisch schwer zu beantworten und politisch und kulturell fast unmöglich. Ich sage dann, der wichtigste Beitrag Europas für die Menschheitsgeschichte war Entdeckung der Menschenrechte. Etwas übrigens, was in der Umfrage zu meinem großen Bedauern gar nicht vorkommt.

Pokatzky: Aber als die größte europäische Errungenschaft wird die Demokratie immerhin bezeichnet.

Verheugen: Ja, aber ich sage, die Menschenrechte, weil die Demokratie sich daraus entwickelt hat, jedenfalls die moderne Demokratie. Die klassische Demokratie war ja nur teilweise Demokratie, weil große Bevölkerungsgruppen ja ausgeschlossen waren. Die moderne Demokratie ist ein Ergebnis der Aufklärung und der Menschenrechte.

Pokatzky: Wenn ich Ihnen jetzt einen Wunsch zu Europa erfüllen könnte, das, was Sie immer schon gerne durchgesetzt hätten, aber auch als Kommissar nicht durchsetzen konnten, was wäre das?

Verheugen: Mein größter Wunsch wäre, dass die nationalen Politiker lernen, dass es niemals richtig sein kann, ein enges nationales Interesse vor das gesamteuropäische zu stellen. Dass immer das europäische Interesse zuerst entdeckt und befunden und beachtet werden muss und dass dann die nationalen Interessen sich einzufügen haben.

Pokatzky: Und in welcher europäischen Sprache darf ich jetzt Danke für dieses Gespräch sagen?

Verheugen: Ach, sagen Sie es auf Deutsch! Also, ich finde die Tatsache, dass wir die vielen verschiedenen, sehr schönen Sprachen in Europa haben, keine wirkliche Belastung, sondern ich empfinde das als eine Bereicherung!

Pokatzky: Danke, Günter Verheugen, früherer Kommissar der Europäischen Union, in unserer Reihe Europa-Liste. Ein Projekt des Goethe-Instituts in Kooperation mit der Zeitung "Die Welt" und eben Deutschlandradio Kultur.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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