Das Internet ist eine Wildnis

Von Alexander Pschera · 02.07.2013
Das Internet sei "für uns alle Neuland", das waren Angelas Merkels Worte. Eine Welle der Erregung ergoss sich daraufhin über die Kanzlerin. Dabei hat sie mit ihrer Einschätzung gar nicht so Unrecht - der Shitstorm entlarvt vielmehr eine kleingeistige Netzgemeinde.
Vielleicht lag es einfach nur an der Wortwahl. Vielleicht hätte die Kanzlerin nicht "Neuland" sagen sollen. Denn genuschelt klingt "Neuland" nach "Neues Deutschland", und dieser Gleichklang führt in die falsche Richtung.

Aber Angela Merkel wäre auch aus anderen Gründen gut beraten gewesen, ihr und unser aller Verhältnis zum Netz in eine treffendere Metapher zu kleiden. Sie hätte das Internet "terra incognita" nennen können, vielleicht auch "das schlechthin Unbekannte" oder, noch besser, eine "Wildnis": "Mister President, das Internet ist für uns alle eine Wildnis!"

Dieser Satz hätte für Furore gesorgt. Er hätte keinen Shitstorm ausgelöst, sondern eine Debatte. Und er hätte die Kanzlerin als philosophische Vordenkerin positioniert. Als weiblichen Peter Sloterdijk, sozusagen.

Denn natürlich ist das Netz kein "Neuland" mehr. Auf Neuland hat man gerade erst den Fuß gesetzt. Das Netz haben wir schon längst betreten. Es ist ein Kontinent, der besiedelt, bewirtschaftet und kolonisiert wird.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Netz immer noch wild, fremd, unheimlich ist. Im Netz treiben crowds und digital natives ihr Unwesen. Man stößt hier auf Irokesen mit rotem Haarschopf. Die Kirche hat das Missionierungspotential dieser Wildnis erkannt. Papst Benedikt sprach in einer Botschaft von der "Evangelisierung des digitalen Kontinents".

Das Netz ist wild, und es ist sogar noch mehr. Es ist dunkel. Es gibt bekanntlich ein Netz im Netz – das Darknet, das nicht von Google erfasst wird und das sich hinter dem ersten Internet ausbreitet. Hier gibt es Dinge zu kaufen, nach denen man auf Ebay in Zeiten von PRISM besser nicht sucht. Und hier kann man Menschen begegnen, die man sicher nicht zu seinen Freunden zählen will.

Wer weiß – vielleicht ist das Internet aufgebaut wie eine russische Holzpuppe? Vielleicht besteht es aus einer Vielzahl von Netzen, von denen eines ins andere führt? Vielleicht gibt es noch weitere Netze im Netze, Darknets zweiter Ordnung, tiefe digitale Räume, die nur wenigen zugänglich sind und die ein geheimes Wissen erfordern?

Wir sind Nutzer des Netzes. Mehr nicht. In Wirklichkeit wissen wir nicht, was das Netz mit uns macht. Wir haben keinen blassen Schimmer davon, wie das Internet unsere Persönlichkeiten und sozialen Kontakte verändert. Löscht es Freundschaft aus – oder bereichert es unsere Beziehungen?

Wir wissen auch nicht, welche politischen Veränderungen das Netz mit sich bringt. Ist es eine Waffe des Volkes, ist es ein Instrument, mit dem sich Diktaturen stürzen lassen? Oder ist es das perfekte Abhörorgan, das das Ende der Demokratie besiegelt?

Wahrscheinlich ist das Netz alles das zugleich. Das Netz ist ein einziger großer Selbstwiderspruch. Und der Riss, den das Netz erzeugt, geht mitten durch uns hindurch. Wir können nur mutmaßen, wie die permanente digitale Ablenkung, das ständige Fingern auf Touchscreens, sich auf unsere Konzentration und auf unsere Kreativität auswirkt. Macht uns das always on, dem wir uns freiwillig ausliefern, müde und erschöpft? Oder erzeugt es eine neue Wachheit, ein neue Form assoziativer Intelligenz?

Als Erforscher des Netzes stehen wir ganz am Anfang. Wir gleichen Ethnologen, die einen neuen Regenwald entdeckt haben und jetzt damit beginnen, diesen zu kartographieren. Genau das wollte Angela Merkel mit der unvergleichlich nüchternen Vokabel "Neuland" zum Ausdruck bringen.

Der arrogante Shitstorm, der sich hämisch über Merkel ergoss, beschädigt aber nicht sie, sondern die spießigen Netz-Besserwisser. Nur weil jemand zehn Stunden am Tag online ist, heißt das noch lange nicht, dass er das Neuland schon verlassen hat. Sich mit seiner Netzaffinität zu brüsten, zeugt von Kleingeisterei. So gebärdet sich keine Elite, als die sich die Netzgemeinde selbst definiert hat.

Alexander Pschera, geboren in Heidelberg, Studium und Promotion Germanistik, Philosophie, Musikwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen in Hörfunk und Print, Buchautor bei Matthes&Seitz, lebt als Autor, Publizist und Kommunikationsberater in der Nähe von München.
Alexander Pschera
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