Das Holocaust-Mahnmal von innen

Von Carsten Probst · 10.05.2005
Von außen betrachtet erhebt sich das Stelenfeld wie ein sanfter, grauer Hügel, der von einem Gitternetz aus tiefen, engen Schneisen durchzogen ist. Erst von einem leicht erhöhten Punkt aus zeigt sich die Wellenform des Denkmals.
Die Anmutung dieses Gebildes ist je nach Wetterlage ganz verschieden. Ist es bedeckt, erscheint alles einheitlicher und dadurch auch eher abweisend. Bei Sonnenlicht hingegen wird durch den Schattenwurf der Stelen ein interessanter optischer Effekt erzeugt, der die gesamte Anlage äußerst rhythmisch und bewegt mit zahllosen verschiedenen Perspektiven wirken lässt. Bei Dunkelheit kann die Anlage von 180 Neonröhren aus ihrem Inneren heraus angestrahlt werden, was ihr einen etwas unheimlichen Anblick verleiht.

Aus der Nähe betrachtet wirken die insgesamt 2711 Stelen viel massiger, als man es von den Modellen oder Fotografien in der Presse her kennt. Ihr Grundriß ist nicht, wie oft behauptet, quadratisch, sondern rechteckig. Ihre sehr fein versiegelte, anthrazitgraue Oberfläche zu berühren, ist angenehm. Überhaupt verströmt die Anlage bei allem Ernst ihrer Bedeutung eine gewisse Noblesse.

Geht man weiter hinein, setzt sich dieser sehr geordnet wirkende Eindruck fort. Sanft senkt sich der dunkel gepflasterte Boden immer weiter ab, während die Stelen zugleich an Höhe zunehmen, bis zu vier Metern siebzig auf dem tiefsten Punkt des Feldes.

Selbst hier jedoch hat man jederzeit eine gute Orientierung, die Gänge sind komfortabel breit und bieten nach überallhin Sichtkontakt mit der Umgebung. So gesehen erscheinen viele Warnungen, sich im "Stelenwald" zu verlaufen, weit übertrieben.

Die insgesamt 54 Nord-Süd- und 87 Süd-West-Achsen, die man durchschreiten kann, werden am südöstlichen Ende der Anlage, ganz in der Nähe der früheren Bunker von Hitlers Reichskanzlei und Goebbels Privatvilla, von zwei Treppenabgängen durchbrochen. Über sie gelangt man hinunter zum Ort der Information.

Wirft man gleich am Eingang einen Blick nach oben, kann man sofort das Konzept hinter diesem unterirdischen Bau erahnen: Die Decken bilden nämlich das geschwungene Raster der Stelenanlage als eine Art "Negativ"-Abdruck ab. In den vier großen Themenräumen und ihrer Ausstellungsarchitektur spielt die imaginäre Stelenform immer wieder eine Rolle. Leuchtende Glasplatten im Boden greifen im ersten Raum das Raster des Stelenfeldes auf. Hier sind Zitate aus Tagebucheintragungen von Verfolgten aus allen Teilen Europas zu lesen.

Im zweiten Themenraum dringen die Stelen des Denkmals scheinbar von oben in den Raum und verwandeln sich in Informationssäulen, auf denen man Fotografien und Dokumente verfolgter Familien sehen kann.

Der dritte Raum ist auf den ersten Blick vollkommen leer, es ist ein Raum der Kontemplation. Nähert man sich, hört man eine Stimme, die die Namen ermordeter europäischer Juden und ihre Biographien verliest. Dazu wird jeder Name einzeln auf die vier Wände projiziert.

Im vierten und letzten Themenraum dringen die Stelen scheinbar aus den Wänden und verengen den Raum wie ein Gefängnis. Hier wird auf Bildschirmen die ungeheure Zahl der Vernichtungsorte und ihre Vernetzung untereinander dokumentiert.

Erkennbar geht es der ganzen Ausstellung darum, den Opfern ein Gesicht zu geben und sie aus der riesigen Masse Verfolgter und Ermordeter individuell herauszulösen. Information und Kontemplation wechseln dabei einander ab.

Begibt man sich danach wieder nach oben in das Stelenfeld, fällt einem viel deutlicher auch dessen Umgebung auf. Man sieht den Reichstag und das Brandenburger Tor auf der einen, den Potsdamer Platz und die Vertretungen der Bundesländer auf der anderen Seite. Vielleicht erst jetzt stellt man wirklich fest, dass auch die Lage dieses Denkmals der Stadt eine zwingende Symbolik aufprägt – denn es befindet sich tatsächlich in ihrer Mitte, an der früheren Nahtstelle von Ost und West. Für einen Moment, so scheint es, kommt hier die Bewegung der Stadt zum Stehen.
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