Das Heile-Welt-Phantasma
Machen Sie doch einfach mal den Astrid-Lindgren-Test! Zehn Minuten auf einem Kinderspielplatz in bildungsnaher Gegend reichen aus. Dann werden Sie Zeuge, wie Annika dem kleinen Niklas sein Holzpferd wegnimmt, Carlotta schmerzhaft von der Wippe fällt und Kaisa sich in die Hosen macht. Nun gut, dann kommt Brüderchen Finn eben in den Baby-Björn, und ab geht's, nach Hause, wo die Kleinen im Ikea-Kinderzimmer noch eine DVD sehen dürfen. Was pädagogisch Wertvolles. "Wickie und die starken Männer" oder, besser noch, "Pettersson und Findus". Und die Gute-Nacht-Geschichte? Ganz klar, der Klassiker: Wie Michel die kleine Ida an der Fahnenstange hochzog.
Hat man das Phänomen erst einmal in den Blick genommen, ist der Befund unausweichlich. Deutschlands Kinderzimmer sind fest in schwedischer Hand. Nicht Spanien, Frankreich oder Österreich verbinden deutsche Eltern mit einer vollends gelungenen Kindheit, nein, Schweden und nur Schweden. Natürlich nicht Schweden als Nation, sondern Schweden als Phantasma, als fiktiver Ort, in dem sich unsere Hoffnungen und Wünsche spiegeln, Schweden als pars pro toto Skandinaviens, Schweden als heile Bilderbuchwelt.
So unbestreitbar der Befund, so wenig bedacht seine gesellschaftlichen Konsequenzen. Dabei weiß mittlerweile jeder um die entscheidende Bedeutung der ersten Lebens- und Lesejahre. Wem auch immer es gelingt, in dieser Schlüsselphase die Psyche eines Kindes zu besetzen, der hat es für den Rest seines Lebens geprägt. Emotional, kognitiv, sozial. In Deutschland gelang und gelingt dies Schweden. Was spricht auch dagegen? Sind die Kernwerte des Astrid-Lindgren-Universums, als Zentrum des Phantasmas, nicht uneingeschränkt zu begrüßen?
Dem Grausgespenst der Kinder vom Bahnhof Zoo stellen wir den ewigen Bauernhofurlaub der Kinder von Bullerbü entgegen. Der krankhaft ehrgeizigen Soccer-Mum den Langmut von Mutter Svensson aus Lönneberga, die ihren Michel "genau so liebt, wie er nun einmal ist". Und dann natürlich die phantastisch autonome Pippi Langstrumpf, deren Tabubrüche lustvoll markieren, dass es kein richtiges Leben in der falschen Idylle des Kleinbürgertums gibt. Bis heute wird die rot-grüne Göre deshalb mit allem gleichgesetzt, was die Bundesrepublik seit '68 untergraben hat.
Kinder können darüber nur lachen. Aber zumindest chronologisch trifft die Analyse zu. Denn wer nach dem zeitlichen Ursprung des Schwedenspuks fragt, landet tatsächlich in den frühen Siebziger Jahren: Schwedens freundliche Übernahme der deutschen Kinderzimmer wurde von den sozialdemokratischen Bildungsoffensiven der Ära Brandt und Schmidt wirksam unterstützt. Abba lieferte den Rhythmus zur Revolution, Ingmar Bergmann den intellektuellen Rückhalt und Björn Borgs eiskalte Eleganz komplettierte das Image vom nordischen Bessermenschen.
Was als modische Flause begann, bestimmt mittlerweile die Bundespolitik. Denn die jungen Eltern der 70er sitzen nun selbst an den Schalthebeln der Macht, und wer damals als Kind mit Karlsson und Pippi in den Schlaf gelesen wurde, setzt heute als Dreißigjähriger eigene Lasses und Bosses in die Welt. Stellen wir uns nur einmal vor, die Kernkraftwerke von Krümmel und Brunsbüttel wären nicht etwa vom schwedischen Vattenfall-Konzern, sondern von Russlands Gazprom betrieben worden. Ein hysterischer Aufschrei wäre angesichts der Störfälle durch die Republik, ja die Welt gegangen. Diese Russen, sie werden uns noch alle umbringen. Schwedischen Unternehmen würden wir so etwas nie zutrauen. Die wollen nur unser Bestes, sind ökologisch, edel und gut.
Vor allem aber heißt von Skandinavien lernen erziehen lernen. Schließlich beweist niemand anderer als Schweden, dass Kleinstkinder, die mit neun Monaten in die Vollzeit-Kita kommen, kollektiv zu toleranten Goldköpfchen geraten. Die Gesamtschulen des Nordens wähnen wir als ideale Mischung aus High Tech und Waldorf, in denen ohne Notendruck flächendeckend Elitenförderung gelingt. 85 Prozent der schwedischen Mütter gehen gerne arbeiten. Und haben dann auch noch ein erfüllteres Liebesleben - mit ihren sanften, feingliedrigen Ehemännern im jahrelangen Erziehungsurlaub.
Es ist gewiss kein Zufall, dass in den aktuellen, heiß umkämpften Debatten zur Bildungs- und Familienpolitik und Sozialpolitik ein sogenannt "skandinavisches Modell" den nie angezweifelten Referenzpunkt jeglicher Diskussion bildet. Aber was wissen wir schon vom realen Schweden, seinen verödenden Provinzen, seinem spürbaren Rassismus? Seiner bedrückenden Konformität, seiner häuslichen Gewalt, seinen Scharen alkoholkranker Jungendlicher, seinen sechs Monate währenden Novemberdepressionen und seiner fortlaufenden Systemrevolution, die zwar noch immer enorm viel Staat, aber dafür erstaunlich wenig Wohlfahrt in Aussicht stellt? Nichts wissen wir, und wollen es auch nicht wissen. Nein, der Grund unserer Schweden-Fixierung beruht nicht auf widerlegbaren Fakten, sondern auf kindischer Fiktion.
Und wie der imaginäre Spunk in Pippis Langstrumpfs Bauch, so wird auch dieses Phantasma noch über Jahrzehnte unsere Selbstbeschreibung bestimmen. Darauf, liebe Kinder, eine Packung Haferflockenkekse.
Wolfram Eilenberger, geboren 1972, ist Philosophischer Korrespondent des Monatsmagazins Cicero und langjähriger Kolumnist des Berliner Tagesspiegels. Er ist Autor zahlreicher philosophischer Bücher, zuletzt Lob des Tores (BvT, 2006) und Wie Wittgenstein das Rechnen verlernte (2004). Wolfram Eilenberger lebt in Berlin und Koivumäki, Finnland.
So unbestreitbar der Befund, so wenig bedacht seine gesellschaftlichen Konsequenzen. Dabei weiß mittlerweile jeder um die entscheidende Bedeutung der ersten Lebens- und Lesejahre. Wem auch immer es gelingt, in dieser Schlüsselphase die Psyche eines Kindes zu besetzen, der hat es für den Rest seines Lebens geprägt. Emotional, kognitiv, sozial. In Deutschland gelang und gelingt dies Schweden. Was spricht auch dagegen? Sind die Kernwerte des Astrid-Lindgren-Universums, als Zentrum des Phantasmas, nicht uneingeschränkt zu begrüßen?
Dem Grausgespenst der Kinder vom Bahnhof Zoo stellen wir den ewigen Bauernhofurlaub der Kinder von Bullerbü entgegen. Der krankhaft ehrgeizigen Soccer-Mum den Langmut von Mutter Svensson aus Lönneberga, die ihren Michel "genau so liebt, wie er nun einmal ist". Und dann natürlich die phantastisch autonome Pippi Langstrumpf, deren Tabubrüche lustvoll markieren, dass es kein richtiges Leben in der falschen Idylle des Kleinbürgertums gibt. Bis heute wird die rot-grüne Göre deshalb mit allem gleichgesetzt, was die Bundesrepublik seit '68 untergraben hat.
Kinder können darüber nur lachen. Aber zumindest chronologisch trifft die Analyse zu. Denn wer nach dem zeitlichen Ursprung des Schwedenspuks fragt, landet tatsächlich in den frühen Siebziger Jahren: Schwedens freundliche Übernahme der deutschen Kinderzimmer wurde von den sozialdemokratischen Bildungsoffensiven der Ära Brandt und Schmidt wirksam unterstützt. Abba lieferte den Rhythmus zur Revolution, Ingmar Bergmann den intellektuellen Rückhalt und Björn Borgs eiskalte Eleganz komplettierte das Image vom nordischen Bessermenschen.
Was als modische Flause begann, bestimmt mittlerweile die Bundespolitik. Denn die jungen Eltern der 70er sitzen nun selbst an den Schalthebeln der Macht, und wer damals als Kind mit Karlsson und Pippi in den Schlaf gelesen wurde, setzt heute als Dreißigjähriger eigene Lasses und Bosses in die Welt. Stellen wir uns nur einmal vor, die Kernkraftwerke von Krümmel und Brunsbüttel wären nicht etwa vom schwedischen Vattenfall-Konzern, sondern von Russlands Gazprom betrieben worden. Ein hysterischer Aufschrei wäre angesichts der Störfälle durch die Republik, ja die Welt gegangen. Diese Russen, sie werden uns noch alle umbringen. Schwedischen Unternehmen würden wir so etwas nie zutrauen. Die wollen nur unser Bestes, sind ökologisch, edel und gut.
Vor allem aber heißt von Skandinavien lernen erziehen lernen. Schließlich beweist niemand anderer als Schweden, dass Kleinstkinder, die mit neun Monaten in die Vollzeit-Kita kommen, kollektiv zu toleranten Goldköpfchen geraten. Die Gesamtschulen des Nordens wähnen wir als ideale Mischung aus High Tech und Waldorf, in denen ohne Notendruck flächendeckend Elitenförderung gelingt. 85 Prozent der schwedischen Mütter gehen gerne arbeiten. Und haben dann auch noch ein erfüllteres Liebesleben - mit ihren sanften, feingliedrigen Ehemännern im jahrelangen Erziehungsurlaub.
Es ist gewiss kein Zufall, dass in den aktuellen, heiß umkämpften Debatten zur Bildungs- und Familienpolitik und Sozialpolitik ein sogenannt "skandinavisches Modell" den nie angezweifelten Referenzpunkt jeglicher Diskussion bildet. Aber was wissen wir schon vom realen Schweden, seinen verödenden Provinzen, seinem spürbaren Rassismus? Seiner bedrückenden Konformität, seiner häuslichen Gewalt, seinen Scharen alkoholkranker Jungendlicher, seinen sechs Monate währenden Novemberdepressionen und seiner fortlaufenden Systemrevolution, die zwar noch immer enorm viel Staat, aber dafür erstaunlich wenig Wohlfahrt in Aussicht stellt? Nichts wissen wir, und wollen es auch nicht wissen. Nein, der Grund unserer Schweden-Fixierung beruht nicht auf widerlegbaren Fakten, sondern auf kindischer Fiktion.
Und wie der imaginäre Spunk in Pippis Langstrumpfs Bauch, so wird auch dieses Phantasma noch über Jahrzehnte unsere Selbstbeschreibung bestimmen. Darauf, liebe Kinder, eine Packung Haferflockenkekse.
Wolfram Eilenberger, geboren 1972, ist Philosophischer Korrespondent des Monatsmagazins Cicero und langjähriger Kolumnist des Berliner Tagesspiegels. Er ist Autor zahlreicher philosophischer Bücher, zuletzt Lob des Tores (BvT, 2006) und Wie Wittgenstein das Rechnen verlernte (2004). Wolfram Eilenberger lebt in Berlin und Koivumäki, Finnland.

Wolfram Eilenberger© privat