Das größte Klassenzimmer der Welt

Von Andreas Stummer · 28.11.2006
E-Learning ist heutzutage ein bereits alltäglicher Begriff: Das Computer-Kabinett in der Schule oder der Laptop für Studenten. Einen völlig anderen Weg, den Rechner und das Internet für die Schule zu nutzen, geht das Projekt "School of Air" in Australien. Was vor über 50 Jahren mit Kurzwellensender und quakenden Lautsprechern begann, ist heute die größte vernetzte Schule der Welt.
Studio 1 ist bereit. Die Verbindung steht, das Signal ist störungsfrei. Drei Scheinwerfer tauchen Kylie Green in grelles Licht. Die 46-Jährige nimmt an ihrem Tisch hinter dem Mikrophon und drei Kontrollmonitoren Platz. Punkt 10 Uhr leuchtet das Rotlicht über Kamera 1 auf: Es ist Showtime. Der Unterricht im größten Klassenzimmer der Welt hat begonnen.

Kylie ist Lehrerin an der "School of the Air" im australischen Broken Hill. Ihre acht Schüler sind über 800.000 Quadratkilometer verteilt. Eine Fläche mehr als doppelt so groß wie Deutschland. Weil die Kinder im Outback nicht in die Schule kommen können, kommt die Schule eben zu ihnen. Per Satellit.
Die "School of the Air" ist eine Schule ohne Kinder. Es gibt keinen Pausenhof und keine lachenden Gesichter, dafür aber auch keine aufgeschlagenen Knie oder Probleme mit Schülern, die sich daneben benehmen.

Zu Beginn, in den 50er Jahren, war der Unterricht, buchstäblich, Schulfunk. Lernen per Kurzwelle. Doch die Übertragungsqualität war oft so schlecht, dass es manchmal Tage dauerte, um gemeinsam eine Kurzgeschichte zu lesen. Inzwischen wurden die alten Transmitter und der mühsame Brief- oder Faxverkehr durch Laptops, das Internet und E-Mail ersetzt. Und durch Video. Seit 2004 sind die Schüler, dank dreier Kameras im "School of the Air"-Studio, auch im Bilde.

"Das war ein enormer Schritt vorwärts. Die Lehrer können jetzt einen interaktiven Unterricht gestalten – als säßen sie wirklich vor ihrer Klasse", sagt SOTA-Direktor Scott Sanford, "Statt nur zuzuhören nehmen die Kinder jetzt, wie in einer gewöhnlichen Schule, auch am Unterricht teil."
Die Studiokameras steuern, drei Computer mit Touchscreens, das Mikrofon, den Scanner und oft auch noch die DVD- und CD-Player bedienen: Lehrer der School of the Air kommen sich oft vor wie Captain Kirk auf der Brücke der Enterprise.

"Die Schüler empfangen die Videoübertragung über Satellit auf dem Heimcomputer. Ohne Zeitverzögerung, störungsfrei und in Farbe. Statt umständlicher Erklärungen, wie früher über Funk, können die Lehrer jetzt den Kindern zeigen, wie sie beim Schreiben ihren Stift halten sollen oder mit Hilfe von Legosteinen rechnen. Und wenn Dinosaurier durchgenommen werden, dann kommen die Lehrer auch schon mal als T-Rex verkleidet zum Unterricht."

"Getrennt und doch vereint": Der Schul-Song der "School of the Air" ist Programm. Hausaufgaben werden per E-Mail erledigt oder mit der Post geschickt. Es gibt sogar Nachhilfe. Einmal im Jahr besucht ein Klassenlehrer jeden seiner Schüler zu Hause. Einen vollen Schultag lang. Zeit um Versäumtes aufzuholen und Schwächen auszubügeln. Für Lehrerin Kathy Hogan sind ihre "Hausbesuche" aber auch eine Gelegenheit, um das zu erleben, worum sie Lehrer-Kollegen in gewöhnlichen Schulen am meisten beneidet: Den persönlichen Kontakt mit ihren Schülern.

"Ich würde viel darum geben, meine Schüler während des Unterrichts sehen zu können. Was sie machen, wie sie reagieren und wenn sie abgelenkt sind. Es wäre phantastisch, wenn auch jedes Kind zu Hause eine kleine Videokamera hätte. Das würde einen Haufen Geld kosten, aber dafür könnten die Kinder nicht mehr länger im Schlafanzug zum Unterricht kommen."

Die Video-Fernkurse der "School of the Air" enden mit dem sechsten Schuljahr. Danach besuchen die Kinder die Internate weiterführender Schulen, oft in Großstädten wie Adelaide, Melbourne oder Sydney. Der Kulturschock sitzt meist tief. Kathy Hogan aber ist stolz darauf, dass "School of the Air"-Schüler akademisch ihren Klassenkameraden aus der Stadt nicht hinterherhinken. Im Gegenteil.

"Unsere Kinder schneiden überdurchschnittlich gut ab. Sie lernen von klein auf, sich mitzuteilen und mit modernster Technik umzugehen. Die Konferenzschaltungen verlangen Disziplin und Knowhow. Mit Computern sind unsere Schüler Stadtkindern meilenweit voraus. Denn sie sitzen ständig vor dem Bildschirm."

Früher waren australische Farmersfamilien schon zufrieden, wenn ihre Kinder durch die "School of the Air" nur lesen, schreiben und rechnen lernten. Jetzt aber, mit Hilfe des Internets und Video-Unterrichts, werden die Schüler immer neugieriger auf die große, weite Welt. Von den 85 Kindern, die von Broken Hill aus unterrichtet werden, wollen nur sechs später die Farm ihrer Eltern übernehmen.