Das gottverdammte Teilchen

Dieter Hattrup im Gespräch mit Ute Welty · 05.07.2012
Naturwissenschaft und Theologie hätten ein großes Problem: die Frage nach der letzten Wirklichkeit, sagt Dieter Hattrup, Mathematiker und Physiker sowie Theologe und Priester. Den Begriff "Gottesteilchen" findet er lustig, mit Gott habe der Inhalt aber nichts zu tun.
Ute Welty: Großer Bahnhof für ein winziges Teilchen! Nach 50 Jahren haben die Wissenschaftler sehr wahrscheinlich den letzten bisher unbekannten Baustein der Materie entdeckt, das Higgs-Boson, auch bekannt unter dem Namen Gottesteilchen. Es mischen sich aber auch kritische Stimmen in den Jubel. So warnt der Bamberger Bischof Schick davor, Gott auf den Seziertisch zu legen. Wie gut, dass es jemanden gibt, der sich in beiden Welten auskennt. Dieter Hattrup hat nämlich Physik und Mathematik und Theologie studiert und Bücher geschrieben wie "Einstein und der würfelnde Gott. An den Grenzen des Wissens in Naturwissenschaft und Theologie". Guten Morgen, Herr Hattrup!

Dieter Hattrup: Guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Wer ist Ihnen denn im Moment näher, der jubelnde Wissenschaftler, oder der kritische Bischof?

Hattrup: Ich glaube, ich verstehe beide. Es ist eine großartige Leistung, das muss man sagen, dieses sogenannte Gottesteilchen zu finden. Aber man sollte vielleicht erst mal klar machen, wie es zu dem Namen kommt.

Welty: Das ist ja auch der Name, an dem sich Bischof Schick vor allem stößt, nämlich dieser Begriff Gottesteilchen. Ist das ein Begriff, den Sie benutzen würden auch in der Entstehungsgeschichte?

Hattrup: Nein, nein. Der ist ja auch ganz kurios zustande gekommen. Im Englischen hat einmal ein Physiker ein Buch geschrieben, "The Goddamn Particle", weil sie das in den 50 Jahren nicht gefunden haben, und dann hat der Verlag einfach "Damn" weggestrichen und dann heißt es "God Particle". Auf Englisch heißt das dann einfach "das verdammte Partikel", das man nicht finden kann.

Welty: Aber griffig ist dieser Begriff ja schon, auch wenn man sich genau anschaut, was dieses Teilchen so tut.

Hattrup: Wissen Sie genau, was es tut?

Welty: Ich habe versucht, mich ein bisschen einzulesen.

Hattrup: Ja dann erkläre ich es mal!

Welty: Ich habe begriffen, dass es eine Aussage darüber trifft, warum wir alle so sind, wie wir sind.

Hattrup: Ja das ist etwas übertrieben, oder vielleicht auch untertrieben. Nach der Relativitätstheorie oder Quantentheorie kann sich Strahlung in Materie und Materie in Strahlung umwandeln. Materie kann still sein, also Ruhemasse haben, und Strahlung bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit. Wie kommt es, dass ein Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit sich in eine Ruhemasse verwandelt? Das ist der Übergang, der jede Sekunde in der Sonne geschieht, Übergang von Strahlung in Masse und von Masse in Strahlung. Das hatte man bisher nicht verstanden.

Welty: Ist das jetzt die Meinung des Physikers und Mathematikers, oder die des Theologen?

Hattrup: Das ist erst mal Physiker und Mathematiker. Das ist der Versuch, E = mc², die Einsteinsche Formel, besser zu verstehen, wie der Prozess funktioniert.

Welty: Und was sagt der Theologe?

Hattrup: Der Theologe sagt, dass das natürlich ein lustiges Wort ist, das mit dem Inhalt fast gar nichts zu tun hat. Gott ist das Ganze, aber hier haben wir es mit einem Teilchen zu tun.

Welty: Wenn Sie sich so zwischen Glauben und Wissen bewegen, was glauben Sie denn zu wissen und was wissen Sie zu glauben?

Hattrup: Ja, das war meine Frage von Jugend auf. Deshalb habe ich ja erst Mathematik und Physik studiert und dann bin ich erst Theologe geworden. Also es gibt ein großes Problem zwischen Naturwissenschaft und Theologie, und das Problem ist: Was ist die letzte Wirklichkeit? Ist die letzte Wirklichkeit Natur - deshalb gibt es eine Menge Leute, die sagen, alle Wirklichkeit ist Natur -, oder ist die letzte Wirklichkeit Gott? Aber was ist dann Gott? Natur oder Gott, das ist die große Frage zum Beispiel auch für Einstein gewesen. Deshalb habe ich mich mein Leben lang an Einstein abgearbeitet, Sie haben ja das Buch genannt.

Welty: Haben Sie denn auf diese große Frage auch eine große Antwort schon gefunden?

Hattrup: Ja ich glaube, man kann das sagen. Ich bin eigentlich Theologe geworden und dann hinterher auch Priester, weil Einstein seinen Kampf gegen den würfelnden Gott verloren hat.

Welty: Inwieweit?

Hattrup: Er wollte sagen, in der Natur geht alles gesetzmäßig zu, determiniert, wie man sagt, Ursache und Wirkung eine einzige Linie. Und es stimmt nicht! Die Quantentheorie des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass es Sprünge gibt in der Natur, und deshalb kann man nicht sagen, dass die Natur alle Wirklichkeit ist. Ich habe jetzt folgende Definition mir zurecht gelegt, mit der ziehe ich schon seit Jahren durch die Lande: Natur ist diejenige Wirklichkeit, die ich ergreifen kann. Klar, ne?

Welty: Ja.

Hattrup: Die Naturwissenschaft versucht, das zu ergreifen. Und dieses mit dem Gottesteilchen war eben ein großes Ergreifen, aber alles lässt sich nicht ergreifen. Deshalb würde ich sagen, Gott ist diejenige Wirklichkeit, die mich ergreift, die mir immer vorweg geht. Bevor ich etwas ergreife, werde ich ergriffen.

Welty: Würden Sie sagen oder so weit gehen, dass es Gottes Wille war, dass die Wissenschaftler diesem "Gottesteilchen" so nahe gekommen sind?

Hattrup: Ja, das ist aber wirklich nur eine Teilerkenntnis. Die große Erkenntnis des 20. Jahrhunderts ist, dass es Sprünge gibt in der Natur, und diese Sprünge haben mit diesem Teilchen natürlich auch etwas zu tun, das ist auch Quantentheorie. Aber der Name ist ja ganz kurios zustande gekommen und mit Gott und der Frage, was die letzte Wirklichkeit ist, hat das nur wenig zu tun.

Welty: Aber ich gehe recht in der Annahme, dass Sie Ihrerseits nicht davon ausgehen, dass die Schöpfungsgeschichte neu geschrieben werden muss?

Hattrup: Von sieben Tagen ist die Rede. Man sagt, der Kosmos ist 13,7 Milliarden Jahre alt. Setzen Sie einen Tag mit zwei Milliarden, und Sie kommen hin! Das ist neu geschrieben und nicht neu geschrieben.

Welty: Professor der Theologie und Doktor der Mathematik, er hat beides unter Beweis gestellt - Dieter Hattrup war das. Ich danke sehr für dieses Gespräch.

Hattrup: Danke, Frau Welty. Schönen Tag noch.

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