Das Gift der Seegurke

Eine Seegurke spielt die Hauptrolle in einer der Erzählungen von Wells Tower
Eine Seegurke spielt die Hauptrolle in einer der Erzählungen von Wells Tower © dpa / picture alliance / Scanfoto code 728
24.01.2012
Gut geht es keiner der Figuren von Wells Tower. Sie sind verstrickt in Ablehnung, Hass oder Misstrauen, und sie werden überwuchert von der Wildnis, die aus ihnen selbst hervorbricht.
Auch wenn sie hinausgehen in die echte Wildnis, in die amerikanischen Wälder, zur Elchjagd etwa, dann treffen sie nur auf kranke Tiere, deren Fleisch nicht zu genießen ist. Auch die Natur hat keine Rettung oder Reinigung mehr zu bieten.

In den neun Geschichten von "Alles zerstört, alles verbrannt" zelebriert Wells Tower einen skeptischen Blick auf die Welt. Der Band ist sein Debüt aus dem Jahr 2009, bei seinem Erscheinen in den USA erschienen hymnische Kritiken, Wells Tower wurde vom Magazin "The New Yorker" rasch auf die Liste der "20 besten Schriftsteller unter 40" gesetzt. Wells Tower hatte vorher als Journalist sein Geld verdient, inzwischen ist er 38 und schreibt an seinem ersten Roman.

"Die braune Küste", die erste Erzählung dieser Sammlung, enthält das Modell der meisten anderen Geschichten. Ein Mann erwacht auf dem Fußboden, mit einem ausgewachsenen Kater im Schädel und Crackerkrümeln in der Unterhose. Er ist aus der Bahn geraten, ein Fehler bei der Arbeit und ein lustloser Seitensprung haben ihn den Job und die Ehe gekostet. Er versucht, auf die Beine zu kommen, baut an einem Haus herum und belebt ein verkommenes Aquarium mit schönen Meerestieren, die er selbst am Strand fängt. Aber als er eine giftige Seegurke in das Aquarium setzt, krepieren alle anderen Wesen darin. Er steht wieder am Anfang.

Diese Seegurke ist ein starkes und komisches Symbol für den böswilligen, animalischen Zufall, der in viele dieser Erzählungen einbricht. Manchmal tritt er als totes, nacktes Vogelküken auf, das die Katze anschleppt, oder als todkranker Elch, der beim ersten Schuss aus der Ferne noch nach Jagdglück aussieht. Diese symbolische Aufladung der Geschichten und ihre vorhersehbare Tendenz zum eskalierenden Unglück schmälern ihre eigentliche Stärke: die gerade, zupackende Sprache. Mit schnellen Sprüngen geht es hinein in die Stories: "Ich zerschlug ein paar Sachen. Ich drohte mit mehr und schlimmerer Gewalt, und Jane verließ mich mit Barry und Marie." So umstandslos bringt Wells Tower eine Familie an ihr Ende, und so drängend und kraftvoll bringt er seine Erzählungen voran. Ihre schlanken und klaren Sätze erinnern an die großen Traditionen der klassischen amerikanischen Short Story.

Nach acht Geschichten aus der Gegenwart schlägt Wells Tower am Ende einen überraschenden Haken. Mit der Titelgeschichte "Alles zerstört, alles verbrannt" ist man plötzlich bei den alten Wikingern. Von einem wilden Aberglauben getrieben, fahren sie übers Meer und verheeren ein britisches Dorf. Zerstörung damals, zerstörte Menschen heute. Zivilisatorischer Fortschritt ist nur eine Äußerlichkeit, das scheint Wells Tower mit seinen Erzählungen aus zwei Zeitaltern mitteilen zu wollen.

Besprochen von Frank Meyer

Wells Tower: Alles zerstört, alles verbrannt. Stories
Aus dem Englischen von Malte Krutzsch und Britta Waldhof
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
269 Seiten, 18,95 Euro