Das Gerücht von der neuen Religiosität

Von Claus Koch · 24.12.2006
Es geht ein Gerücht um in Europa: Immer mehr Bewohner des alten Kontinents, die zumeist gottferne gelebt hätten, suchten heute nach neuer geistiger Bindung zu einem Höheren, in dem sie sich wieder erkennen können. Es ist in der Tat nur ein Gerücht, das von vielen weitergesagt wird, auch wenn sie nicht genau angeben können, was diese Suche ausmacht. Man gibt ihr unscharfe Namen: neue Spiritualität‚ Rückkehr zur Religion, zur Religiosität.
Es ist keine mächtige Woge, die da unter den Europäern aufwallt, eher eine leise, seichte Strömung. Keine wortstarken Verkünder treten auf, Hitzige, die mit hitziger Rede eine höhere Geistesmacht anrufen, Bekehrung zum guten Leben und Abkehr vom Übel predigen. Und es wird einstweilen mehr von einem Bedürfnis als von einer Tatsache gesprochen: Bedürfnis nach Frömmigkeit, Bedürfnis nach Verehrung, Bedürfnis nach seelischer Hinwendung und nach gemeinsamer Wanderschaft zu Gott.

Dagegen kann man wenig einwenden, man wüsste aber auch nicht recht, was man dafür haben sollte. Es sind ja Menschen eines wahren Wollens und voller Geduld, keine eifernden Missionare. Sie wollen und können nicht über Begriffe von Gott und den menschlichen Verpflichtungen zu ihm streiten. Wenn unsere älteren christlichen Konfessionen sich von der Heiligen Schrift nährten und sich um Begriffe bis aufs Blut bekämpfen konnten, murmeln und singen die neuen Frommen lieber ihren liebevollen Singsang. Sie können sich nicht zu einer sieghaften Religion verstehen - wie einst die frühen Christen, die schon wenige Jahrhunderte nach dem Kreuzestod zur Staatsreligion aufgestiegen waren, gefördert durch einen nicht sehr friedfertigen Kaiser Konstantin. Zwei Jahrtausende lang war dann die Ausbreitung des christlichen Geistes von christlicher, oft unchristlich ausgeübter Macht begleitet. Davon wissen die neuen Religionsbedürftigen wenig. Sie brauchen auch nichts von der europäischen Aufklärung zu wissen, die mit der organisierten Religion in ständigem Streit lebte - gemeinsam formten sie den europäischen Geist. Den christlichen Kirchen als den Treuhändern des Glaubens ist diese weiche Welle unbehaglich. Sie entzieht sich der Lehre des strengen Wortes, nimmt sich von der Bibel gerade nur das, was sie für ihr Bewegtsein braucht.
Das Bedürfnis nach einer neuen Frömmigkeit bleibt auch deswegen ein Gerücht, weil es nicht von Professionellen und Glaubensstarken weitergetragen wird, sondern vor allem von den Medien, also meist Journalisten in ihrer Vulgärpsychologie. Hinzu treten die Sektenexperten der Kirchen, Kulturwissenschaftler und sonstige Akademiker. Alles in allem Kommunikationsmenschen, die mit spirituellen Sehnsüchten wenig Erfahrung haben.

Als der Apostel Paulus auf einer seiner Missionsreisen nach Athen kam, entdeckte er auf dem Areopag, dem Hügel des höchsten Gerichts, zahlreiche Altäre und Tempel, die den verschiedensten Göttern geweiht waren. Er, der seinen einen und einzigen Gott mit sich trug, musste feststellen: Die Welt ist voller Götter. Es setzte ihn in Erstaunen, als er einen geheiligten Stein fand, auf dem geschrieben war: Dem unbekannten Gott. Sollte er den Ort der Verehrung für seinen Christusgott in Anspruch nehmen, ihn einreihen in die göttervolle Welt? Das wäre zu gefährlich gewesen. Die Athener hätten ihm religiöse Herrschsucht vorgeworfen und ihn verjagt, bestenfalls.

Gottsucher können nur von Gottsuchenden richtig verstanden werden. Der europäische Homo faber, der Allesmacher, kann nur das Gemachte begreifen. Er kann an der Welt der Religion nur insofern ein Interesse haben, als sie in unserer durchkonstruierten Lebenswelt vorhanden ist, aber ihrerseits nicht begriffen werden will und kann. Da muss der aufgeklärte Europäer doch schlucken. Aber er sollte es hinnehmen. Wir sind nicht dazu verpflichtet, das Zungenreden zu verstehen, aber wir können es auch nicht ablehnen. Hier liegt eine schwere, vielleicht eine Lebensfrage für die großen christlichen Kirchen. Die leichte und unbelastete Gläubigkeit unterspült ihren Glaubensbestand, der einmal im Ringen mit der Schrift wie auch mit Welt errungen worden ist. Luther war das überragende Beispiel dafür. Und wie halten es seine Nachfolger? Sie kommen fast wehrlos der diffusen Neugläubigkeit entgegen, damit ihre eigenen Gemeindemitglieder nicht ins bequeme Glauben abgetrieben werden, abdriften in ein spracharmes Gefühlswesen. Die soeben veröffentlichte Bibel in gerechter Sprache, mit der man die Armen im Geiste halten möchte, ist eine einzige Kapitulation vor der Wohlfühl-Religiosität.

Bedürfnis ist ein schwaches Wort für die Hinwendung zum Glauben, zum Zweifel verlangt, Wenn aber das Bedürfnis so weit verbreitet ist, muss es ernst genommen werden. Und das heißt, man muss es formen, in Ordnungen bringen, die den Gläubigen Verpflichtungen auferlegen. Wenn man am Ende seines Lateins ist, wie die Kirche zu Rom, ist es nicht damit getan, das Lateinische abzuschaffen, wie es vor mehr als vierzig Jahren mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil geschah. Papst Benedikt kann nicht einfach der Fels Petri bleiben, er hat es, im Namen des Glaubens, mit einer schwerelosen Frömmigkeit zu tun. Und das weiß er auch.

Claus Koch, Publizist, in München geboren, studierte Philosophie, Ökonomie und Geisteswissenschaften und war zunächst in einem Wirtschaftsverlag tätig. Seit 1959 arbeitet er als freier Journalist für Presse und Rundfunk, seit 2003 gestaltet er den Mediendienst ‚Der neue Phosphorus". In den sechziger Jahren redigierte Koch die Monatszeitschrift "atomzeitalter", später war er Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Sozialwissenschaft "Leviathan" und Mitarbeiter mehrerer sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Ende der Natürlichkeit - Streitschrift zur Biotechnik und Biomoral", "Die Gier des Marktes - Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft" und "Das Ende des Selbstbetrugs - Europa braucht eine Verfassung".