Das Geflecht zweier Kulturen

14.10.2010
Die Katastrophe des 11. September 2001 ist das zentrale Element des Romans. Eine Familie aus New York wird an diesem Tag ebenso aus ihrem Alltag gerissen wie eine Familie in Bagdad. Beide Geschichten beschreiben das Lebensgefühl des dann folgenden Jahrzehnts.
Dies ist ein großangelegter Roman, der weit über die übliche Saisonproduktion hinausreicht. Er versucht, auf eine ganz eigene Weise, nämlich auf literarische und nicht journalistische oder kolloquiale Weise, unser Epochengefühl zu beschreiben – eine Epoche, die durch das Attentat des 11. September 2001 definiert worden ist.

Es geht um zwei Familien, eine in New York und eine in Bagdad, die nicht miteinander zu vergleichen sind und auch nichts miteinander zu tun haben – außer, dass die weltgeschichtlichen Ereignisse sie zu Opfern machen. Wir hören vier Stimmen, die sich abwechseln: Martin und seine Tochter Sabrina in New York, Tarik und seine Tochter Muna in Bagdad. Durch diese Figurenrede erfahren wir nicht nur etwas über die direkten Ereignisse seit 2001, sondern auch über die Geschichte der letzten Jahrzehnte.

Sabrina möchte sich vor einer Reise gerade von ihrer Mutter verabschieden, die im World Trade Center arbeitet, als das Flugzeug der Terroristen dort einschlägt. Drei Jahre später, 2004 im Bürgerkriegszustand in Bagdad, der auf die US-amerikanische Invasion folgt, verliert auch Tarik seine Frau und seine älteste Tochter bei einem Bombenattentat auf einem Markt. Das sind die Kulminationspunkte des Geschehens, doch entscheidend für den Romanverlauf ist viel eher, welches untergründige Geflecht sich ergibt, wie durch einzelne Motive, sprachliche Bilder und musikalisch eingesetzte Wiederholungen etwas Neues entsteht.

Zwischen den politischen Ereignissen des Romans erstreckt sich ein geheimes literarisches Verweisungssystem, das etwas Anderes ins Blickfeld rückt. Thomas Lehr zeigt das durch seine Form: Er verbindet die moderne, assoziativ wechselnde westliche Perspektive mit dem rhapsodisch-märchenhaften orientalischen Erzählen. Der Duktus der alten Epen, der sich vor expressivem Pathos nicht scheut, mischt sich mit der Reportage, mit minuziös aufgezeichneten Dialogen, mit der medial aufgeladenen Wirklichkeit des Jetzt. Dass es keine Satzzeichen gibt, sondern rhythmisch strukturierte Absätze, die sich sehr leicht lesen lassen, unterstützt diese literarische Ost-West-Symbiose.

Bei Martin, einem deutschamerikanischen Germanistikprofessor, wie bei Tarik kreuzen sich die Hemisphären. Martin arbeitet über Goethe, der West-Östliche Diwan und die Übersetzungen Friedrich Rückerts aus dem Arabischen rücken dabei in den Mittelpunkt. Tarik ist Arzt, hat sieben Jahre in Paris studiert und kehrte 1974 zurück. Über die politischen Entwicklungen wird viel gesprochen in diesem Roman, zwischen Martin und Seymour genauso wie zwischen Tarik und seinem Freund Ali.

Vor der Realität des 11. September wie des eskalierenden Terrors nach der westlichen Besetzung Bagdads wirken ihre Analysen verzweifelt, vergeblich, wie ein bitterer, wissender Slapstick, und genau in dieser Spannung liegt die Wirkung. Das Monströse tagespolitischer Parolen ist selten so deutlich geworden wie in diesem Buch. Das Herausragende dieses Romans liegt aber vor allem darin, dass er eine literarische Form gefunden hat, die die politische Katastrophe zwar nicht aufhebt, sie aber kenntlich macht und durchdringt. Es geht nicht um den Kampf von Kulturen. Es geht darum, wie sehr die westliche und die östliche Kultur aufeinander bezogen sind.

Besprochen von Helmut Böttiger

Thomas Lehr: September. Fata Morgana
Carl Hanser Verlag, München 2010
477 Seiten, 24,90 Euro
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