Das Gedächtnis der Erde

Von Burkhard Reinartz · 24.11.2012
Kaum einen Meter unter den Füßen beginnt das Reich der Steine: beim Spazierengehen unter der Grasnarbe der Natur oder beim Schlendern auf städtischen Bürgersteigen. Steine sind seit Jahrmillionen das Fundament des Menschen.
Jedes Atom des menschlichen Körpers war vor langer Zeit Teil eines steinernen Sterns. Autos, Eheringe und selbst der Silizium-Chip basieren auf mineralischen Verbindungen. Gigantische Mengen von Gestein, Erzen und wertvollen Mineralien bilden die Grundlage der modernen Welt. Wir wohnen buchstäblich im Stein – bis irgendwann ein Grabstein die irdische Reise begrenzt.

Von den archaischen Steinskulpturen der Osterinseln über die Kunstwerke Michelangelos bis hin zur Moderne: Immer wurde der Stein als Werkstoff geschätzt. Musiker haben ihm Klänge entlockt und Literaten Marmor, Granit und Basalt in Geschichten verewigt.

Eine "Lange Nacht" über das abenteuerliche Leben unserer mineralischen Verwandten.


Eine Reise in die Vergangenheit

Der gesamte Planet Erde ist im Grunde nichts anderes all ein riesiger Stein. Menschen, Tiere und Pflanzen bilden einen turbulenten äußeren Saum auf der im All schwebenden Steinkugel.

Vor langer Zeit war die Erde ein rotierender Feuerball aus roter Glut, in dessen Innern Temperaturen von 5000 Grad Celsius herrschten. In einem Zeitraum von Milliarden von Jahren kühlt sich die Erde immer weiter ab, bis der zähflüssige Magmateig eine Felskruste von rund 35 Kilometer bildet. Der enorme Druck im Erdinnern bläht die Erdkruste an bestimmten Stellen so stark auf, dass Gebirge entstehen. Wie riesige Eisschollen schwimmen die Kontinente der Erdkruste auf dem flüssigen Magma-Meer. Doch gelegentlich bricht die Felshaut auf und der Druck der Unterwelt entlädt sich im Lavastrom und Ascheregen der Vulkane. Von dem Augenblick an, wo Magma zu Fels erstarrt, kehrt der Verwandlungsprozess sich wieder um: Das neu entstandene Gestein verwittert und wandelt sich zu neuen Formen.

Würde ein Astronaut in einer Zeitreise 200 Millionen Jahre rückwärts reisen, so würde er den Erdball nicht wieder erkennen. Südamerika Afrika, Indien, Australien und die Antarktis gehörten damals zum Superkontinent Gondwana. Zwischen Gondwanaund dem Asien und Europa umfassenden Eurasia erstreckte sich ein riesiger als Tethys bezeichneter Urozean.


Stein erzählen eine Geschichte

Das Wort Stein stammt aus der indogermanischen Sprachwurzel stai, was soviel wie gerinnen, sich verdichten, fest werden bedeutet. Ein Stein ist also etwas Geronnenes, prozesshaftes.

Rolf Hollerbach, der Leiter des mineralogischen Museums der Universität Köln kennt sich in der Geschichte der Steine bestens aus.

"Es gibt Granite, die geologisch ganz jung sind, ein paar 100.000 oder Millionen Jahre alt sind. Sie können aber auch einen Granit finden, der vielleicht knapp zwei Milliarden Jahre alt ist . Oder Meteorite, das ist ja das älteste, was wir haben, das fasziniert viele Leute, dass sie da praktisch an den Ursprung unseres Universums, mindestens unseres Sonnensystems, hinschauen können."

Außerhalb eines Museums gewährt ein sogenannter Geopark einen Blick in die Erdgeschichte: Es sind Gebiete, in denen man erdgeschichtliche Prozesse gut nachvollziehen kann. So auch im Geopark Schwäbische Alb.

Immer schon haben Menschen versucht, das magische Band zwischen Mensch und Stein zu ergründen. Egal, ob unsere Vorfahren die rätselhaften Steinringe von Stonehenge errichteten oder die Alchemisten den Stein der Weisen suchten.

Roger Callois: Steine, Hanser Verlag

"Wenn ich Steine aufmerksam betrachte, bemühe ich mich manchmal, nicht ohne Naivität, ihre Geheimnisse zu erraten. Unversehens begreife ich, auf welche Weise so viele rätselhafte Wunder sich bildeten, die Gesetzen entsprangen, welche sie oft genug zu übertreten scheinen, als entstammten sie einem Aufruhr und, um ganz offen zu sein, einem Fest, die ihre Seinsweise nunmehr ausschließt. Ich bemühe mich in Gedanken, sie im glühenden Augenblick ihrer Entstehung zu erfassen. Da gerate ich in eine ganz merkwürdige Erregung. Ich spüre, wie ich ein wenig die Natur der Steine annehme. Zugleich nähere ich sie der meinigen an, dank der unvermuteten Eigenschaften, die ich ihnen im Verlauf abwechselnd präziser und ungezwungener Gedankengänge zuschreibe, in denen das Gewebe des Traums und die Kette des Wissens sich bilden. Zwischen der Starre des Steins und der geistigen Gärung kommt eine Art Kontakt zustande, in dem ich für einen Augenblick Weisheit und Stärkung finde."


Inspiration für Künstler

Ulrich Rückriem gehört zu den bekanntesten Bildhauern der Welt. Seine nur minimal bearbeiteten findlingsartigen Steinblöcke finden sich in Museen und Landschaften auf dem ganzen Erdball. In Rückriems Arbeiten wird der ursprüngliche Charakter der Steine gleichzeitig erhalten und transzendiert. Natur und menschliche Gestaltung gehen unmerklich ineinander über. Ein derartiger bildhauerischer Eingriff setzt eine Haltung voraus, die den Stein als Gegenüber ernst nimmt.

"Der Stein muss geachtet werden, nicht ich."

Der Bildhauer Rückriem sieht seine monolithischen Steinblöcke nicht als isolierte Skulpturen. Jeder Stein braucht eine passende Umgebung, die seinen Charakter ergänzt und verstärkt. Im besten Fall sollten Skulptur und Umgebung eine Einheit bilden. Die höchste Befriedigung zieht der Bildhauer dann aus seinen Arbeiten, wenn sie sich organisch in eine Naturlandschaft einfügen.


Erinnerungsarbeit mit Steinen

"Steine sind stumme Lehrer, sie machen den Betrachter stumm
und das Beste, was man von ihnen lernt, ist nicht mitzuteilen"

Johann Wolfgang von Goethe

Der für seine "Stolpersteine" bekannte Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt seit 1997 vor den Häusern von NS-Opfern selbst gefertigte Pflastersteine, die auf einem Messingblech Namen und Todesdatum der Bewohner zeigen. "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist", '' sagt Gunter Demnig. Die durch das Darüberlaufen blank polierten "Stolpersteine" sollen Passanten im Vorübergehen auf das Schicksal der Verfolgten aufmerksam machen. Mit dem Projekt will Demnig die Erinnerung an die Vernichtung der Juden, Zigeuner, Euthanasieopfer, Homosexuellen und anderer verfolgter Gruppe im Nationalsozialismus lebendig erhalten.

Insgesamt hat Demnig bislang fast 7000 Stolpersteinein vielen Städten Deutschlands und Österreichs verlegt. In den letzten Jahren hat er seine Erinnerungsarbeit auch auf Kopenhagen, Paris und Odessa ausgeweitet.

Kultur heute: Erfolgsschlager Denkmalkunst - Konferenz über Erinnerungskultur in Berlin (DLF)


Die Seele der Steine zum Schwingen bringen

"Jeder Gegenstand hat eine Seele, und diese Seele kann befreit werden, indem der Gegenstand in Schwingung versetzt wird."
John Cage

Schon im alten China wurden Klangsteine bespielt. Archäologen datieren die frühesten Funde rund eintausend Jahre vor der christlichen Zeitrechnung. Einzelne, in einem hölzernen Rahmen aufgehängte Klangplatten waren damals Teil religiöser Tempelzeremonien. Freischwingend brachten die Mönche sie mit Schlegeln zum schwingen. Den Klangsteinen wurde eine enorme Achtung entgegengebracht. Im Abendland gelten Steine dagegen meist als tote Materie, als beliebiges Material, das allenfalls durch seine ästhetisch Wirkung Beachtung findet. Klaus Feßmannexperimentierte zuerst mit musikalischen Skulpturen aus Plexiglas und Spiegeln, die durch Sonneneinstrahlung in Schwingung gerieten und eigenständige Klänge hervorbrachten. Vor rund fünfzehn Jahren begann er dann mit Klangsteinen zu experimentieren.

Möglichst homogen, ohne störende Adern oder Einschlüsse sollten sie sein. In einem aufwendigen Prozess werden die Steine geglättet und geschliffen, bis Diamantsägen im Zentimeterabstand vorsichtig die Lamellen aussägen. Anschließend muss sich der Stein erst einmal beruhigen, bis sich die Molekularstruktur gesetzt hat. Manchmal spielt Feßmann seine Instrumente jahrelang ein, bis sie ihren individuellen Klangcharakter gefunden haben. Dabei scheint es einen Zusammenhang zwischen der geografischen Heimat der Klangsteine und ihrem besonderen Klang zu geben.

Der Steinring von Stonehenge ist nach wie vor ein großes Rätsel. Weder weiß man, wie die untergegangene Steinzeitkultur die Megalithen zusammengetragen und aufgerichtet hat, noch welchem Zweck die Anlage diente. Ein Akustik-Forscher untersucht jetzt die Wirkung der Steine auf die Wahrnehmung von Musik.


Der ewige Kampf: Sisyphos

"Und ich sah den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheueren, befördern wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen. Berg. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinab. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus."
Homer, 11. Gesang der Odyssèe


Günther Wallraff und die Steine

"Nichts ist weicher als Wasser, nichts härter als Stein,
doch bezwingt das weiche Wasser den harten Stein.
Schwaches besiegt Starkes
Starres unterliegt Beweglichem
Jeder weiß es, niemand handelt danach
Wahres ist oft wie das Gegenteil"

Lao-tse

Der Kölner Publizist Günther Wallraff zeigt sich von der formbildenden Kraft des Wassers beeindruckt.. Die wenigsten wissen, dass Wallraff einleidenschaftlicher Steinesammler ist. In seinem Gartengelände hat er eine Art Privatmuseum mit Steinen aus aller Welt angelegt.

Still werden, dem Gesang der Steine lauschen, sich phasenweise in die Einsamkeit der Natur zurückziehen als Gegenpol zur hektischen Geschäftigkeit der Welt. Das sind einige der Gründe, weshalb auch Günther Wallraff vor mehr als zehn Jahren die Steine als Lebensbegleiter entdeckt hat. Sein Haus ist gefüllt mit Fundsteinen und steinernen Kultobjekten ferner Länder.

"Für mich sind Steine ein Gegengewicht, auch eine Gegenwelt zu meinem sonstigen Leben, was ja immer sich in negativen Zusammenhängen bewegt hat und wo ich auch mit zerstörten Strukturen zu tun hatte . Seitdem ich mich darauf einlasse, hat es mir geholfen aus sehr kaputtmachenden und auch aufreibenden, nervlich belastenden Zusammenhängen wieder Kraft zu gewinnen. "


In der Sendung zitierte Bücher (Auswahl):


Hikaru Okuizuni: Das Gedächtnis der Steine

Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart - München 2000
ISBN 9783421053244
Gebunden, 159 Seiten, 17,38 EUR

Die endgültige Niederlage zu Ende des Zweiten Weltkriegs klar vor Augen, terrorisiert ein brutaler Leutnant seine ihm verbliebenen Soldaten. Schwer verwundet erklärt ein älterer Soldat einem jungen Kameraden, daß allein die Steine die Wahrheit der Welt auf ewig in sich tragen. Der junge Soldat überlebt, die Erlebnisse dieser letzten Tage jedoch wollen ihm keine Ruhe lassen. Je älter er wird, desto mehr verliert er sich an das Studium der Steine, läßt Familie, Beruf und Kinder hinter sich, sucht nach dem Ewigen hinter der Vergänglichkeit. Erst als sein jüngerer Sohn sich für die Forschungen des Vaters zu interessieren beginnt, scheint ein Ausweg möglich.

Ulla Hahn: Das verborgene Wort

Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart - München 2001
ISBN 9783421054579
Gebunden, 592 Seiten, 25,46 EUR

Ein Mädchen, Arbeiterkind, voller Neugier und Lebenswille sieht sich im Käfig einer engen katholischen Dorfgemeinde gefangen. Sie stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Härte und Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Lebensgewohnheiten festhalten wollen. Im Deutschland der fünfziger und frühen sechziger Jahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts.

Roger Callois: Die Schrift der Steine

Droschl Verlag, Graz 2004
ISBN 9783854206538
Kartoniert, 195 Seiten, 25,00 EUR

In hochkonzentrierter und äußerst präziser Sprache entwickelt Roger Caillois vor uns seine Einsichten in das Wesen des Steins, in dem er - in einer Momentaufnahme festgefroren - bereits den Tanz des Lebendigen wahrnimmt. Die unbewegte Starre des Steins scheint geradezu Voraussetzung dafür zu sein, daß sich die Bewegung, die Dynamik des Lebens abzeichnen kann.

Xiaolu Guo: Stadt der Steine

Albrecht Knaus Verlag, München 2005
ISBN 9783813502534
Gebunden, 254 Seiten, 18,00 EUR

Siegfried Lenz: Die Klangprobe
dtv, ISBN 3-423-11588-2
Blick in das Naturkundemuseum in Gotha
Blick in das Naturkundemuseum in Gotha© AP
"Schwarzer Brunnen" (1986) von Ulrich Rückriem im Kunstmuseum Bonn
"Schwarzer Brunnen" (1986) von Ulrich Rückriem im Kunstmuseum Bonn© picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
"Stolpersteine" des Künstlers Gunter Demnig liegen auf einem Bürgersteig in Köln.
"Stolpersteine" des Künstlers Gunter Demnig liegen auf einem Bürgersteig in Köln.© AP
Der Journalist Günter Wallraff unterstützt den iranischen Musiker Shahin Najafi
Der Journalist Günter Wallraff unterstützt den iranischen Musiker Shahin Najafi© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler