Das fröhliche Krankenzimmer

Von Andrea Gerk · 02.01.2013
Das richtige Buch kann ablenken, unterhalten, ermutigen oder beruhigen. Und all das kann man besonders gut brauchen, wenn es einem nicht so gut geht, im Krankenhaus zum Beispiel. Zum Glück besitzen viele Kliniken eine eigene Patientenbibliothek. So auch die Charité in Berlin.
"Guten Tag, ich komme von der Patientenbibliothek, brauchen Sie vielleicht was zum Lesen oder Hörbucher? Tschüß"

Mittwochs ist im Campus Charité Mitte die Orthopädie dran. Dann fährt Brigitta Hayn gegen 9.30 Uhr mit dem Bücherwagen auf die Station, sammelt ausgeliehene Bücher ein und fragt, wer neuen Lesestoff benötigt:

"Welche Richtung interessiert Sie denn? 'was Spannendes? Hol' ich 'mal 'was. Ich leg mich in ihre Hände ... "

Seit 1990 leitet die studierte Bibliothekswissenschaftlerin Brigitta Hayn die Patientenbibliothek der Charité, in der sie seit 1973 tätig ist. Für die Ausleihe am Krankenbett gibt es eine Art Wochenfahrplan, abgesehen davon ist die Bibliothek an vier Tagen in der Woche geöffnet. Sie bietet rund 14.000 Medieneinheiten an, zu denen auch CDs, Zeitschriften und DVDs gehören - und Bücher in mehr als zehn Fremdsprachen. Spitzenreiter sind dabei Bücher in Russisch und Türkisch, wobei die fleißigsten fremdsprachigen Leser Vietnamesen sind.

Bei den Besuchen am Krankenbett berät Brigitta Hayn die Patienten auch. Nach fast vierzigjähriger Berufserfahrung hat sie ein gutes Gespür dafür entwickelt, welches Buch das Richtige sein könnte. Die meisten Patienten suchen Ablenkung, bevorzugt wird leichte Literatur, Männer lesen am liebsten Krimis und Thriller. Aber auch andere Faktoren sind für die Auswahl wichtig:

"Es spielt natürlich auch die Dicke des Buches eine Rolle. Also darauf wird schon öfter Wert gelegt, dass gesagt wird: 'Ja, es sollte nicht so ein dicker Wälzer eben sein, muss gut zu halten sein.' Denn man muss schon bedenken, wenn man im Bett liegt, dann soll einem das Buch ja nicht auf's Gesicht fallen, also man muss es noch halten können und außerdem ist es ja bei der Liegedauer, die wir in den Kliniken jetzt haben schwierig, lange dicke Bücher durchzulesen. Das schafft man ja dann gar nicht. "

Lesen kann Ängste reduzieren, entspannen und beruhigen, es kann aber auch das Gegenteil bewirken, also anregen oder ermutigen. Im Klinikalltag, wo man sich mit wildfremden Menschen arrangieren muss, bietet ein Buch auch einen privaten Raum in den man sich zurückziehen kann. Wer mobil ist, kann in die Patientenbibliothek, zu der mancherorts sogar ein Lesecafé gehört, flüchten. Abtauchen in die fiktionale Welt bedeutet Schutz vor schnarchenden Zimmergenossen und unerwünschten Gesprächen. Wem gerade das fehlt, für den rollt mit dem Bücherwagen auch eine Portion Zuwendung und Ansprache ans Krankenbett.

"Ich bemerke schon auch das Bedürfnis der Patienten, sich mal bisschen zu unterhalten oder über 'ne bestimmte Literatur ins Gespräch zu kommen. Manchmal zeigen mir die Patienten auch Bücher, die sie gerade mitgebracht haben und selber lesen und wenn ich dann sag': 'Das kenn ich.' Dann freuen sie sich. Man kann über die Literatur schon sehr gut auch ins Gespräch kommen."

Die Vorläufer der heutigen Patientenbibliotheken wurden während des Ersten Weltkriegs eingerichtet, um die verwundeten Soldaten in den Lazaretten psychisch zu unterstützen. Bereits im amerikanischen Bürgerkrieg hat Walt Whitman verwundeten Soldaten Gedichte über die Grausamkeit des Krieges vorgelesen. In den zwanziger und dreißiger Jahren folgte eine regelrechte Gründungswelle von Patientenbibliotheken in Deutschland, Europa und den USA. Auch wenn später - im Zuge der Technisierung des Klinikalltags - viele Einrichtungen wieder geschlossen wurden, sterben diese Krankenhaus-Oasen doch nie ganz aus:

"Die Patientenbibliotheken wurden schon so oft totgesagt. So ist es aber nicht. Es gibt in der ganzen Republik Patientenbibliotheken, auch in konfessionellen Häusern. Sie leben immer irgendwie weiter und es entstehen auch an manchen Häusern neue Patientenbibliotheken. "

Besonders wichtig können Bücher für kranke Kinder sein, weshalb der Arbeitskreis für Jugendliteratur schon 1969 auf Bitten einer Kinderklinik die Initiative "Das fröhliche Krankenzimmer" gegründet hat. Das Lesen, Vorlesen oder auch nur anschauen von Büchern und Bildern, aber vor allem der Austausch über das Gelesene, kann die Kinder aufmuntern, sie von Heimweh und Trennungsschmerz ablenken, ihnen helfen, über ihre Ängste und Sorgen zu sprechen.

Die Phantasie soll angeregt werden und auf diese Weise Seele und Selbstheilungskräfte stärken. Gerade Kinder, die nicht aufstehen dürfen, haben die Reisen im Kopf besonders nötig. Der Bücherwagen bringt Ablenkung von der fremden Umgebung und manches Buch kann wie ein Türöffner zu Gedanken und Gefühlen funktionieren - nicht nur bei Kindern.

"Guten Tag, braucht von Ihnen vielleicht jemand 'was zum lesen ... bin mit dem Bücherwagen unterwegs."


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