Das Ereignis hat viele Dimensionen

Im Berliner Dom wird die "Panzerkreutzer Potemkin" von Sergej Eisenstein aufgeführt.
Im Berliner Dom wird die "Panzerkreutzer Potemkin" von Sergej Eisenstein aufgeführt. © picture alliance / Hans Joachim Rech
Von Christian W. Find · 21.01.2012
Einer der erfolgreichsten Stummfilmpianisten ist Graf Stephan von Bothmer: Er führt Filme nicht nur in Kinos und Konzerthallen, sondern auch in Kirchen auf. Sogar das Endspiel der Fußball-EM 2008 begleitete er auf einer Orgel. Jetzt präsentiert er Stummfilme mit Live-Begleitung im Berliner Dom.
Stummfilmkonzerte, die live mit Musik begleitet werden, sind nichts Neues, im Berliner Dom allerdings schon. Das Konzept Stephan von Bothmers, jedes seiner vier Konzerte mit einer Seligpreisung zu verbinden, hatte die Domgemeinde überzeugt. Denn im Dom sind die Seligpreisungen ein fester Bestandteil der Raumarchitektur.
"Selig sind, die reinen Herzens sind, denn ihnen wird das Himmelreich gehören, das ist oben in der Domkuppel. Die sind bebildert mit diesen sehr, sehr berühmten und teuren Mosaiken. Ein Mosaik hat 25 Quadratmeter, also die Größe eines Klassenraums, die sind da fast 70 Meter hoch. Und meine Idee war, wenn man hier eine Einführung hat von einem Theologen und der erzählt einem nichts über den Film, sondern der sagt einem nur, was ist Seligkeit und was ist Barmherzigkeit, dann bin ich der Meinung, sieht man einen anderen Film, als wenn man das nicht tun würde."

Für diese Einführung fand sich aber kein Theologe.

Selig sind, die reinen Herzens sind, ist ja heute dran, das kann ich Ihnen nicht interpretieren, was ein reines Herz ist, Stan und Olli sind wie die Kinder, aber ob Kinder ein reines Herz haben, ich bezweifel es, die sind auch boshaft und genauso wie wir Erwachsenen. Sind ja viele Kinder da, ich freu mich sehr ...

Jede Umsetzung einer Idee hat eben ihre Schwierigkeiten, und ein Stummfilmkonzert im Berliner Dom stellt an den Komponisten und Klangkünstler von Bothmer noch einmal eine andere Herausforderung.

"Es ist eine Wahnsinnsehre, an so einem Instrument spielen zu dürfen. Es ist eine riesige Orgel mit, ich weiß nicht wie viel tausend Pfeifen aber auch unglaublich vielen Registern. Also Register sind das, was beim Keyboard die Klänge sind, die man dann live mischt, es gibt sogar ein kleines Glockenspiel. Das erinnert ein bisschen an die Kinoorgel, so bin ich überhaupt zur Orgel gekommen, ich bin ja eigentlich Pianist.

Aber die Orgel hat auch ihre Tücken. Also sie hat ne ganz lange Verzögerungszeit zwischen Tastenanschlag und Ton. Und das ist unglaublich anstrengend. Da kann man fast überhaupt keinen Rhythmus machen. Denn wenn ich schon zwei Töne weiter bin, hör ich noch die Töne, die ich vorher gespielt hab. Das ist eben dadurch dass die Übersetzung von der Taste zur Pfeife pneumatisch ist. Das war ne Herausforderung, hat aber auch großen Spaß gemacht."

Die Präsentation von Stummfilmen mit Musik, so erklärt von Bothmer, kann auf zweierlei Weise geschehen, entweder improvisiert oder mit einer vorher festgeschriebenen Komposition. Der eigentliche Reiz einer Stummfilmbegleitung aber besteht in der Live-Improvisation, weshalb auf den großen Stummfilmfestivals die Pianisten den Film, den sie begleiten, vorher nicht zu sehen bekommen.

"Ich bevorzuge so'n Mittelding aus beidem, dass ich mich sehr, sehr mit dem Film beschäftige, eine Analyse mache, die sehr persönlich auch ist, und dann kann ich eben Sachen in die Musik legen. Also das Publikum braucht den Film nur einmal zu sehen und sieht aber von mir eine Interpretation, die über Wochen entstanden ist, und sieht Dinge, die man sonst erst beim dritten, vierten, fünften Mal sehen entdecken würde. Ich kann sagen, guck mal auf diesen Aspekt oder den Aspekt und leite dadurch das Publikum auch ein bisschen durch den Film und kann eben Sachen, die auf einer tieferen Ebene liegen, auch ausdrücken."

Während der Vorführung verfolgt von Bothmer an der Orgel die Handlung des Films auf einem Monitor. Das Publikum wiederum kann auf einer zweiten kleineren Leinwand in der Kirche sein Fingerspiel beobachten. Die Handlung des Films, der sakrale Raum mit dem Thema der Seligpreisungen und der Künstler, der sich dazu in Beziehung setzt: Das Ereignis hat viele Dimensionen.

"Also zum Beispiel bei Stan und Olli gibt's noch ne Ebene, die noch auf einer ganz anderen Ebene funktioniert wieder. Die hab ich im Gefängnis mal begleitet, in Herford in der JVA, und da war eben die Hälfte des Publikums waren Insassen und die andere Hälfte des Publikums kam von außen, und dies gemeinsame Lachen, das war eine unglaubliche Erfahrung, und zusätzlich war's noch ne unglaubliche Erfahrung: ich hab da viele Stunden mit den Gefangen verbracht, wir haben zusammen Kaffee getrunken und da uns unterhalten, und das kommt dann auch in die Musik rein, also deshalb werde ich im Dom auch eine andere Musik machen als bevor ich das im Gefängnis gespielt hab. So entwickelt sich das auch weiter."

Ob der Berliner Dom in seiner langen Geschichte jemals ein so lautes herzerfrischendes Lachen vernommen hat? Auch wenn es nicht immer aus reinem Herzen kam, so war es doch spontan und, so würde es Stephan von Bothmer sagen, das Lachen ist ein so ursprünglicher, menschlicher Laut, wie er nur am Lagerfeuer entstehen kann.

"Das kommt doch alles eigentlich vom Lagerfeuer, und Geschichten am Lagerfeuer ist doch irgendwie das älteste, was es überhaupt gibt, und da ist meiner Meinung nach auch das Phänomen Gottesdienst daraus entstanden, da erzählen wir Geschichten aus der Bibel. Und daraus ist aber auch das Kino entstanden. Also es gibt vorne diese leuchtende Leinwand. Und dann gibt es Leute, die sich diese Geschichte anhören, die da erzählt wird."

Vor dem Hintergrund dieser archetypischen Betrachtung lässt sich der erwartungsvolle Blick des Publikums auf die Leinwand auch mit der Konzentration der Gemeinde auf das Geschehen am Altar vergleichen. Hier verstellt nicht die Leinwand den Altar, sie ist Bestandteil des Altarraums.

"Es gibt einen Fotografen, der hat Langzeitaufnahmen von meinen Stummfilmkonzerten gemacht, also so richtig Belichtungszeiten von mehreren Minuten. Und dann ist natürlich auf der Leinwand nichts mehr sichtbar. Das ist ein gleißend helles Licht, und die Zuschauer sitzen ja relativ still, die sind scharf. Und die gucken sozusagen in dieses Phänomen Leinwand rein. Das sagt für mich genau aus, was Kino ist."

Und warum Kino in der Kirche funktioniert, wenn die Filme nicht einfach nur vorgeführt werden. Tatsächlich waren manche Gäste so beeindruckt, dass sie im Anschluss daran noch einige Zeit in den Bänken saßen.

"Das hat noch mal ne ganz andere Tiefe für mich und ne ganz andere Beziehung. Ich musste immer zwischendurch wieder in die Kuppel gucken, das ist ja auch wirklich besonders, dass das so von oben runter strahlt, dies Thema, das gibt dem Film noch mal ne ganz andere Wirkung, und das war ihm ja beim Spielen sehr bewusst. Die Architektur hat auch was ganz anderes gewonnen, und das Lachen im Raum, da waren Kinder dazwischen, es war ein sehr großes Erlebnis."
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