Das Erbe von San Remo

Von Tobias Mayer · 19.04.2005
Viele Konflikte in der arabischen Welt haben ihre historischen Wurzeln in der Grenzziehung im Nahen Osten nach dem ersten Weltkrieg. Heute vor 85 Jahren, am 19. April 1920, begann die Konferenz von San Remo, bei der die Grundlagen für den heutigen Grenzverlauf im Nahen Osten zwischen Frankreich und Großbritannien ausgehandelt wurden.
Als das jungtürkische Regime 1914 in den Ersten Weltkrieg eintritt, ist dies gleichzeitig der Anfang vom Ende des Osmanischen Reiches. Briten und Franzosen bereiten bald die Aufteilung der arabischen Provinzen vor. England verspricht den Arabern einen unabhängigen Staat und ermuntert sie zum Widerstand gegen die Osmanen. In einem Geheimabkommen aber stecken Großbritannien und Frankreich bereits 1916 ihre Einflussgebiete im Nahen Osten ab. Dazu sichert der britische Außenminister Lord Balfour der zionistischen Bewegung im November 1917 Unterstützung zu.

"Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte."

Die Balfour-Deklaration brüskiert die Araber - das Ende des Ersten Weltkriegs stärkt aber scheinbar ihre Position. Das Osmanische Reich ist zerschlagen und der neu gegründete Völkerbund sieht ein grundsätzliches Selbstbestimmungsrecht vor. In der Folge proklamiert der "Allgemeine Syrische Nationalkongress" im März 1920 in Damaskus die arabische Unabhängigkeit. Unter dem Eindruck dieser aktuellen Ereignisse beginnt am 19. April 1920 in San Remo an der italienischen Riviera die Konferenz der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Die Atmosphäre ist angespannt, schreibt die Vossische Zeitung.

"Dem Sonderberichterstatter des "Echo de Paris" missfällt die ganze äußere Gestaltung der Konferenz. Er meldet, die Minister träfen sich nur zu den offiziellen Sitzungen. Es gäbe keine gesellschaftlichen Zusammenkünfte, keine Besuche, keine Einladungen. "Unterredungen ohne jede Freundlichkeit", das ist die beste Definition, die man von dem Kongress in San Remo geben könne."

Briten und Franzosen einigen sich jedoch nach einer Woche über die zu vergebenden Mandate im Nahen Osten. Großbritannien bekommt Palästina dies- und jenseits des Jordan sowie den Irak, Frankreich erhält Syrien. Gestärkt durch die Ergebnisse von San Remo beendet Frankreich im September 1920 in Damaskus gewaltsam die arabischen Unabhängigkeitsträume, installiert bald darauf einen christlich dominierten Libanon und zementiert damit die Teilung Syriens.

Die Abmachungen von San Remo über den Status von Palästina werden erst mit dem Völkerbundmandat zwei Jahre später schriftlich fixiert. Das Ost-Jordanland, das heutige Jordanien, wird faktisch abgetrennt. In den Mandatstext wird auch die Balfour-Deklaration über eine jüdische nationale Heimstätte aufgenommen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Palästina wächst in den folgenden Jahrzehnten beständig. Die sozialen Spannungen und Unruhen zwischen Arabern und Juden verstärken sich. Mehrere Pläne, Palästina zu teilen, scheitern - eine schwere Hypothek für den 1948 ausgerufenen Staat Israel.

Noch während im April 1920 die Repräsentanten der Entente-Mächte in San Remo über einen Friedensvertrag mit dem Osmanischen Reich beraten, konstituiert sich in Ankara unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk ein Gegenparlament. Die westliche Öffentlichkeit nimmt zwar kaum Notiz von der neuen nationalen Bewegung in der Türkei, aber der italienische Zeitungskommentator des "Tempo" sieht unruhige Zeiten voraus.

"Das errichtete Haus ist auf Sand gebaut und wird beim Ansturm der vergewaltigten ethischen und historischen Rechte nicht widerstehen. Es gibt eine Nemesis, welche Ungerechtigkeit und Habgier binnen kurzem an den Anstiftern rächen wird. Der Vendettafriede von San Remo ist schon jetzt rot von Blut, die Vergewaltigung nicht nur des türkischen Volkes, sondern der ganzen islamischen Welt wird in Anatolien bezahlt werden. Wen Gott verderben will, den straft er mit Blindheit."
Tatsächlich kommt der Friedensvertrag mit dem Osmanischen Reich, der im August 1920 in Sèvres unterzeichnet wird und in San Remo beraten wurde, nie zur Ausführung. Die Nationalisten um Atatürk lehnen ihn strikt ab. In einem zweijährigen blutigen Unabhängigkeitskrieg beenden sie das Sultanat in Istanbul. Die Griechen in Westanatolien sind besiegt, die Armenier vertrieben oder ermordet, von kurdischer Autonomie keine Rede mehr. Der Friedensvertrag von Lausanne im Juli 1923 markiert die formelle Geburtsstunde der neuen Türkei. Die staatlichen Territorien im Nahen Osten sind nun weitgehend fixiert, nur die Grenze zwischen Israel und einem Palästinenserstaat ist bis heute umstritten.