Das Erbe der Befreiungstheologie

Solidarischer Kaffee mit Jesus in Lateinamerika

Verehrer des ermordeten Erzbischofs Romero tragen ein Porträt von ihm durch die Straßen.
Oscar Romero war ein schonungsloser Kritiker von sozialer Ungerechtigkeit und Bandenkriminalität in seinem Land und Anhänger der Befreiungstheologie. © picture-alliance / Oscar Rivera
Sebastian Pittl im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 01.07.2018
Die Befreiungstheologie – das klingt nach einer menschenfreundlichen Kirche, der Vatikan sah das anders. Der neue Papst ist aufgeschlossener als seine Vorgänger. Welche Impulse kann die Befreiungstheologie der Kirche heute geben? Das weiß der katholische Theologe Sebastian Pittl. Er forscht am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt am Main.
Kirsten Dietrich: Befreiungstheologie: das war das theologische Versprechen Lateinamerikas, das vor allem in den 70er- und 80er-Jahren einen verheißungsvollen Klang für viele engagierte Christen auch in Europa hatte. Befreiungstheologie, das klang nach einer bunteren, menschenfreundlichen Kirche, nach den naiv-bunten Bibelbildern von der Insel Solentiname und bitterem, aber solidarischem Kaffee. Im Vatikan sah man das anders. Führende Vertreter wurden vor die Glaubenskongregation zitiert und aus der katholischen Kirche ausgegrenzt. Man vermische Weltliches und Geistliches mit ganz falschen Schwerpunkten – das war der Vorwurf des damaligen Vorsitzenden der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger. Ratzingers Nachfolger im Papstamt verfolgt einen ganz anderen Kurs: Papst Franziskus sucht das Gespräch, aber er kommt eben auch selber aus Lateinamerika. Theologie der Befreiung – was da vor 50 Jahren entstand und warum sich Theologinnen und Theologen auch heute noch dafür interessieren, auch in Europa, das wollte ich von Sebastian Pittl wissen. Er ist katholischer Theologe und forscht am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt am Main dazu, welche Impulse aus der Befreiungstheologie auch heute die Kirche beleben können. Theologie der Befreiung – was meint das genau, das wollte ich zunächst von ihm wissen.
Sebastian Pittl: Vom Anspruch her ist die Theologie der Befreiung ja eigentlich nichts Neues, sondern versucht eigentlich nur, Dinge zu aktualisieren, die man bereits in der Bibel finden kann, also die Verortung in den Armen, der prophetische Einsatz für Gerechtigkeit, dass man Christus oder Gott in besonderer Weise in den Armen findet, das begegnet auch schon in den biblischen Schriften, das findet man auch immer wieder in der kirchlichen Tradition, wenn auch manchmal sehr stark an den Rand gedrängt, aber das, was man dann explizit Befreiungstheologie nennt, also das, was wirklich auch diesen Namen dann bekommen hat, das ist sehr stark mit dem lateinamerikanischen Kontext verbunden. Kirchenpolitisch gibt es zwei wichtige Punkte: also zum einen, das zweite vatikanische Konzil von 1962 bis 65, das innerhalb der katholischen Kirche einen großen Aufbruch bedeutet hat, auch viele Menschen ermutigt, sich stärker für die Welt, für Gerechtigkeit, für Frieden einzusetzen. Zum anderen der 1968, also das ist jetzt genau 50 Jahre her, die zweite Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín in Kolumbien, und dieses Ereignis gilt für viele als der Startschuss der Befreiungstheologie. Also da haben sich diese Bischöfe in dieser Versammlung sehr entschieden distanziert von der Allianz, die es in Lateinamerika lange gegeben hat zwischen der kleinen oligarchischen Oberschicht und kirchlichen Vertretern und haben einerseits sehr deutlich gemacht, dass sie sich als Kirche an die Seite der verarmten Bevölkerungsmehrheiten stellen wollen und, dass sie zweitens auch begriffen haben oder immer stärker gelernt haben, dass man, um diesen lateinamerikanischen Herausforderungen gerecht zu werden, nicht einfach die Theologie von Europa kopieren kann, sondern eine neue Theologie auch entwickeln muss, die diesen Herausforderungen auch gerecht wird.
Dietrich: Eine Theologie mit der vorrangigen Option der Kirche für die Armen. Das ist so die Formulierung, die wirksam geworden ist, und diese Theologie steht auf dem Hintergrund einer allgemeinen Situation von politischer Unterdrückung, von extremer Ungleichheit, von eben auch vielleicht einer Weltsituation, in der viele Zeichen auf Umbruch, auf Revolution, auf Neuanfang stehen, Stichwort 1968. Kann man wirklich sagen, dass das so das Jahr war, das so etwas wie ein Startschuss für die Theologie der Befreiung gegeben hat?

In El Salvador ist das Erbe noch lebendig

Pittl: Ja, das war wahrscheinlich tatsächlich der entscheidendste Impuls. Also die Befreiungstheologie ist eigentlich keine homogene Größe, sondern eigentlich muss man von verschiedenen Befreiungstheologien sprechen, die auch in unterschiedlichen Ländern ganz unterschiedlich ausgesehen haben, also in Uruguay anders als im andinen Hochraum in Peru, in Mexiko anders als in Zentralamerika, aber dieses Ereignis von 1968 war wirklich ein Ereignis, das eine kontinentale Strahlkraft gehabt hat, indem sich verschiedene Bewegungen und Ansätze, die es davor auch schon gegeben hat, irgendwie gebündelt haben und eine neue Dynamik entfaltet haben. Neu war daran, auch dass das jetzt nicht mehr nur einzelne Theologen und Gruppen waren, die sich in dieser Richtung der Option für die Armen und auch des strukturellen Einsatzes für Gerechtigkeit engagiert haben, sondern dass das wirklich auch von einer Mehrheit der Bischöfe mitgetragen wurde. Das hat diesen Bewegungen einen sehr starken Rückhalt gegeben und auch einen ganz kräftigen neuen Schub.
Dietrich: Wie die Theologie der Befreiung dann konkret geworden ist, das sah ja ganz verschieden aus. Die einen haben Basisgemeinden irgendwo in Slums mit verarmter Bevölkerung gegründet, die anderen haben sich als Priester mit der Waffe in der Hand Befreiungsbewegungen angeschlossen. Die Frage ist, das war vor 50 Jahren, wie sieht es denn jetzt aus? Was ist geblieben von diesem Aufstand der Befreiungstheologie? Sie haben selber vor allen Dingen in El Salvador, aber auch in anderen Ländern Zentralamerikas gearbeitet und geforscht. Was kann man da noch spüren von der Befreiungstheologie?
Sorgt oft für Ärger - das Logo der Befreiungstheologischen Gruppe Berlin
Sorgt oft für Ärger - das Logo der Befreiungstheologischen Gruppe Berlin© Deutschlandradio / Christian Röther
Pittl: Ich habe am meisten in El Salvador geforscht, das ist der Kontext, den ich am besten kenne, und da würde ich schon sagen, dass dieses Erbe noch sehr lebendig ist. In El Salvador ist das natürlich sehr stark mit der Person Óscar Romero, also diesem berühmten Bischof, der dann auch von den Militärs ermordet worden ist.
Dietrich: 1980, direkt vor seinem Altar.
Pittl: Und das ist natürlich schon eine Zeit lang her, und das stimmt, dass sich die Gesellschaft in diesen letzten Jahrzehnten in Lateinamerika und auch in El Salvador dramatisch verändert hat. Also es ist jetzt nicht Bürgerkrieg, aber das Niveau der Gewalt ist ähnlich hoch. Heute sind es vor allem die Jugendbanden und die Drogenkartelle, die für die Gewalt verantwortlich sind, aber noch immer sterben fast genauso viele Menschen pro Tag als damals im Bürgerkrieg. Auch die religiöse Landschaft hat sich verändert. Das sind heute auch sehr stark Pfingstkirchen, die aktiv sind in El Salvador, aber diese Erinnerung an Óscar Romero, die ist immer noch sehr stark spürbar. Ich habe zum Beispiel einmal in einem kleinen Ort einen Mann getroffen, der dort ein Museum gehabt hat, das erinnert hat an den letzten indigenen Aufstand, der 1932 sehr brutal niedergeschlagen worden ist, und dieser Mann hat gesagt, er glaubt eigentlich nicht an die Religion und die Kirche, denn mit der Religion haben die Mächtigen immer die kleinen Leute unterdrückt und hinters Licht geführt, aber er glaubt an Óscar Romero und an den Märtyrer von El Salvador.

Marxismus - "ein wichtiger Bezugspunkt der Befreiungstheologie gewesen"

Dietrich: Aber die kommunistische Utopie, die ja sozusagen der theologischen und kirchlichen Gedanken an ein Reich Gottes, in dem es eben allen Menschen gut geht und es Gerechtigkeit für alle Menschen bringt, den politischen Hintergrund gegeben hat, diese kommunistische Utopie existiert ja in der Form nicht mehr. Also was treibt dann die Befreiungstheologie heute an?
Pittl: Gut, dass der Kommunismus und der Marxismus ein wichtiger Bezugspunkt der Befreiungstheologie gewesen wären, das haben auch sehr stark die Kritiker betont, aber da muss man, glaube ich, differenzieren. Also zum einen ist der Marxismus in Lateinamerika nicht zu vergleichen mit dem europäischen Marxismus, und zum zweiten ist auch nicht für alle Befreiungstheologien der Marxismus tatsächlich ein wichtiger Dialogpartner gewesen. Also in Zentralamerika schon, aber zum Beispiel in der argentinischen Befreiungstheologie, die sogenannte Theologie des Volkes, die den Hintergrund auch für den aktuellen Papst Franziskus bildet, da hat der Marxismus eine verhältnismäßig unbedeutende Rolle gespielt. In jedem Kontext muss man sich die Frage ja auch neu stellen, und das machen Befreiungstheologen heute auch – wie sieht die Armut heute aus, was sind die Hintergründe dieser Armut, wie kann man die analysieren, was sind die strukturellen Ursachen, ökonomisch, politisch, sozial, und dazu muss man immer, zu jeder Zeit, neu natürlich auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft der jeweiligen Zeit ???.
Dietrich: Dass die Befreiungstheologie heute noch Bedeutung hat, sieht man ja auch daran, dass zum Beispiel Sie sich für diese Befreiungstheologie interessieren, obwohl Sie lange nach der Blütezeit oder nach der Entstehung dieser Theologie geboren sind und nicht aus Lateinamerika stammen, sondern aus Sankt Pölten. Was hat Sie denn an der Befreiungstheologie fasziniert?
Pittl: Also an der Befreiungstheologie hat mich mehreres fasziniert, also zunächst habe ich Personen getroffen, die ich immer als sehr glaubwürdig und engagiert kennengelernt habe und wo ich dann oft gemerkt habe, viele dieser Personen haben eines gemeinsam, dass sie sich früher mal für Befreiungstheologie interessiert haben und irgendwie aus diesem Erbe ziehen. Das kann man natürlich nicht mehr bruchlos fortsetzen, wie das damals in den 60er- und 70er-Jahren geschehen ist. Das muss man auf sehr kreative neue Weise machen, aber da gibt es nicht nur mich, da gibt es viele jüngere Theologen, Leute in der Kirche, die das auch machen. Es gibt im deutschsprachigen Raum ein junges befreiungstheologisches Netzwerk, das vor allem aus Studierenden besteht, und sie sind in unterschiedlichen Feldern engagiert, im Einsatz für Flüchtlinge, für eine gerechte Asylpolitik, aber auch im Einsatz für neue Strategien und Verbesserungen für neue Formen von Prekarisierung in Europa, aber auch in anderen Kontexten zu schaffen. Faszinierend an der Befreiungstheologie oder das, was das bleibende Erbe vielleicht ist, das sind unterschiedliche Dinge, also einerseits natürlich dieser entschiedene Einsatz für die Armen, auch diese gewisse Leidenschaft auch für Gerechtigkeit, zum anderen auch das glaubwürdige persönliche Zeugnis. Also viele dieser Menschen, die sich da engagiert haben während der Zeit der Militärdiktaturen, haben das, wie Óscar Romero oder Ignacio Ellacuría, über den ich gearbeitet habe, ja auch mit dem eigenen Leben bezahlt. Also diese hohe Kohärenz, Authentizität, das sind die Dinge, die nach wie vor inspirierend sind.
Dietrich: Gibt es Elemente in der Befreiungstheologie, von denen Sie sagen würden, ja, das ist genau der theologische Ansatz, den wir auch für kirchliche und theologische Fragen und Probleme hier in Europa heute im Jahr 2018 gebrauchen können?
Pittl: Ja, ich glaube, da gibt es einiges. Die Befreiungstheologie war ja zum Beispiel eine Theologie, die erste Theologie vielleicht, die es geschafft hat, auch diesen gewissen Eurozentrismus der europäischen Theologie aufzubrechen und eine globale Dimension da einzutragen, und das ist heute, glaube ich, entscheidender denn je. Wenn man sich nur an die aktuellen Debatten um die sogenannte Flüchtlingskrise ansieht.
Dietrich: Das heißt – Entschuldigung, wenn ich da jetzt zwischenfrage –, das heißt, die globale Dimension ist der Blick auf Ungerechtigkeit weltweit und wie diese Ungerechtigkeit zusammenhängt.

Politik und Spiritualität sind Elemente der Befreiungstheologie

Pittl: Genau. Also dieser Blick für globale Zusammenhänge, das ist ein entscheidender Faktor, und ich denke, dass man auch gerade am aktuellen Papst sehr schön sehen kann, wie dieses Erbe der Befreiungstheologie auch heute inspirierend und wegweisend sein kann. Der jetzige Papst spricht zwar wenig von Befreiungstheologie an sich, aber viele Motive, die er aufgreift, die verdanken sich doch sehr eindeutig diesem Hintergrund, also dieser Einsatz für die Armen, dass man versucht, Theologie zu betreiben im Ausgang von den Orten, wo heute neue Formen von Marginalisierung und Exklusion entstehen. Da gab es ja diesen sehr symbolischen Besuch in Lampedusa. Diese globale Dimension, diese Betonung der Strukturen, die auch immer wieder dahinterstehen zwischen Formen von Marginalisierung und Armut. Ihm ist auch viel vorgehalten worden, dieser Satz, diese Wirtschaft tötet, und natürlich mag das ein bisschen ein simples Urteil sein, dass man differenzieren muss, aber er hat damit sehr stark angezeigt, dass man auch über diese ganz grundsätzlichen Fragen der ökonomischen und politischen Systeme, gerade auch in ihren globalen Auswirkungen, theologisch neu nachdenken muss.
Dietrich: Ist das dann eher ein politisches Erbe, dass die Befreiungstheologie hinterlassen hat und mit dem man heute weiterarbeitet, oder gibt es da auch eine spirituelle Dimension?
Pittl: Das Entscheidende für mich aus der Befreiungstheologie liegt, glaube ich, darin, dass man genau diese beiden Elemente, Politik einerseits und Spiritualität andererseits, zusammendenken muss. Da gibt es auch andere Theologen, Johann Baptist Metz, der mal von einer Mystik der offenen Augen gesprochen hat, protestantische Theologen, Dorothee Sölle, die von Mystik und Widerstand gesprochen hat, das ist etwas, was auch in der Befreiungstheologie sehr stark ist. Einer der ganz bekannten, noch lebenden Befreiungstheologen, Jon Sobrino, der hat Spiritualität definiert als den Mut, der ungeschönten Realität ins Auge zu blicken, also ehrlich zu sein gegenüber der Realität, sich den Herausforderungen der Realität zu stellen, nicht zu flüchten in Scheinwelten, die man sich ausdenkt, ob das jetzt politisch ist, soziale oder religiöse Scheinwelten sind, sondern der Realität ins Auge zu sehen, und das ist eine sehr spirituelle Sache. Also in diesem Sinn kann man, glaube ich, sagen, dass es nicht um Politik oder Spiritualität geht, sondern genau darum, diese beiden Dimensionen in ihrer inneren Verbindung zu leben und zu sehen.
Dietrich: Im Oktober wird Óscar Romero, Befreiungstheologe und 1980 ermordeter Erzbischof von San Salvador, von Papst Franziskus heiliggesprochen – vielleicht eine späte Versöhnung des Vatikans mit dieser Art des engagierten Glaubens. Das Erbe der Befreiungstheologie – ich sprach mit Sebastian Pittl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltkirche und Mission in Frankfurt am Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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