Das Erbe bewahren

Robert B. Fishman · 02.08.2013
In Riga steht das einzige fast komplett erhaltene jüdische Ghetto Europas. Ein Museum erinnert an die Verangenheit, die Holzhäuser in der Moskauer Vorstadt gehören zum UNESCO-Welterbe. Inzwischen rückt das Viertel zunehmend in den Fokus von Investoren.
Über brüchiges Kopfsteinpflaster rumpelt die blau-weiß-türkisfarbene Straßenbahn vorbei an bröckelnden, verwitterten Fassaden Richtung Osten durch Rigas Moskauer Vorstadt. Noch ist der Sanierungs- und Tourismusboom, der Rigas Altstadt längst umgekrempelt hat, hier nicht angekommen. Die Kulisse vier- und fünfstöckiger Mietshäuser der vorletzten Jahrhundertwende geht allmählich in eine lockere Bebauung über: verwitterte ein- und zweistöckige Holzhäuser aus der Zeit, als die russischen Zaren über Riga und Lettland herrschten.

Während des Zweiten Weltkriegs pferchten die Nazis hier Juden aus Lettland, den anderen baltischen Ländern und aus Westeuropa zusammen, um sie dann in die Vernichtungslager zu deportieren. Allein aus Deutschland verschleppten die Besatzer 25.000 Jüdinnen und Juden ins Rigaer Ghetto. Überlebt haben nur wenige. Heute ist das unscheinbare Viertel aus Holzhäusern das einzige fast komplett erhaltene jüdische Ghetto Europas.

"Nach dem Krieg waren sie für kurze Zeit leer, weil die Menschen nicht in der Gegend des Ghettos wohnen wollten, wegen der Erinnerungen und Assoziationen, die damit verbunden waren."

Erklärt Artis, ein junger Mann von rund 30 Jahren, der für den Veranstalter "Eat Riga" Touristen auf Fahrrädern durch die wenig bekannten Stadtteile Rigas führt. Nur selten verirren sich Fremde in diese Gegend.

"Dann wurden sie weggegeben an Obdachlose und Menschen mit geringem Einkommen und andere aus der Sowjetunion, die Schwierigkeiten hatten, eine Wohnung zu finden. Dadurch veränderte sich die soziale Struktur des Viertels. Vor dem Krieg war es eher die aufstrebende Mittelklasse, die hier wohnte, Menschen, denen es relativ gut ging. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zwielichtig – heruntergekommen – und es war nicht empfehlenswert nach Einbruch der Dunkelheit oder allein herzukommen."

Heute rückt das ehemalige Ghetto in den Fokus von Investoren

Inzwischen haben Investoren und Spekulanten die Moskauer Vorstadt mit dem ehemaligen jüdischen Ghetto entdeckt. In einer Seitenstraße hat ein kleines, modernes Hotel eröffnet. Erste Häuser werden saniert.

"Es sind meist russische Familien, die in diesen Gebäuden leben. Jedenfalls sind diese Holzhäuser Teil des UNESCO-Welterbes und das hat sein Gutes und sein Schlechtes: Gut ist, dass sie geschützt sind und nicht zerstört werden dürfen; schlecht ist, dass man all die Prozeduren beachten muss und die Besitzer haben manchmal nicht die Geduld oder nicht das Geld, es zu tun. So, was passiert dann? Ein Gebäude brennt eines Nachts auf geheimnisvolle Weise ab und zwei Wochen später ist da auf geheimnisvolle Weise ein Parkplatz entstanden. Das ist das alte Muster: abgebrannt und dann nach zwei Wochen ein Parkplatz!"

Im 19. Jahrhundert brannten viele Holzhäuser in der Moskauer Vorstadt ab. Anschließend gab die russische Regierung vor, wie die Gebäude wieder aufzubauen waren. Artis erzählt, dass es ungefähr 15 oder 20 Musterpläne gab, nach denen sich die Bauherren zu richten hatten. So ähneln sich die verbleibenden Holzhäuser sehr. In dem kleinen Park nebenan erinnert fast nichts mehr an den jüdischen Friedhof, der hier bis 1945 war.

"Die jüdische Gemeinschaft war zerstört und es gab keine Leute, die sich um den Platz hier gekümmert haben. Er verfiel. Und die Menschen fingen an Teile zu klauen, zum Beispiel diese glitzernden Metallkugeln. Deshalb entschloss sich die sowjetische Regierung in den 1960er-Jahren das ganze Friedhofsgelände einzuebnen und einen Park daraus zu machen. Das war dann der Park der kommunistischen Brigaden. Aber nach der Unabhängigkeit hat man sich entscheiden, dem Platz seinen alten Namen zurückzugeben: der alte jüdische Friedhof. Von dem Originalfriedhof sind nur noch ein paar Überreste da. Alles andere ist weg. In einer Ecke gab es auch eine kleine Synagoge. Sie war von einer Ziegelmauer umgeben. Aber alles ist fort."

Museum erinnert an die Vergangenheit

Was noch zu retten ist, versucht Rabbi Menachem Berkahan für die Nachwelt zu sichern. Fast im Alleingang baut er das Rigaer Ghetto- und Holocaust-Museum auf.

"Vor dem Krieg gab es 93.400 Juden und 70.000 wurden in der Holocaustzeit umgebracht. Dazu wurden aus dem Westen noch über 25.000 Juden gebracht, meist aus Deutschland, die man da auch ermordet hat. Wichtig ist zu betonen, dass das Rigaer Ghetto das einzige war, das so wie in der Zeit des Krieges geblieben ist. Das Ghetto von Riga – die Gebäude existieren heute, sicher eine kleine Zahl von Häusern wurde zerstört, aber die Leute wohnen in den selben Gebäuden, wo damals die Juden wohnten. Wir haben die Ausstellung über das Ghetto gebaut. Dazu haben wir das Museum 'Topographie des Terrors' in Berlin besucht. Und da sah ich, dass die ganze Ausstellung auf dem Hof dort ist. Jeder kann kommen und es ansehen. Und dann haben wir entschieden. Wenn das so gut ist in Deutschland – und die keine Komplexe haben, das zu machen – dann machen wir es auch in Lettland."

Das Museum zeigt das jüdische Leben vor dem Zweiten Weltkrieg und das Ghetto ab 1941

"Zum Beispiel die Familie Haid. Sie hat in einer bestimmten Straße in Riga gewohnt und man hat sie am 7. Oktober 1941 ins Ghetto gebracht. Am 30. November, dem Tag der größten Aktion, wurden sie in ungewisse Richtung hinausgebracht. Wir wissen, was passiert ist. Praktischerweise haben wir Dokumente, die zeigen wer wo wohnte – eben auch die Geschichte von dieser Familie."

Eines der ehemaligen Ghetto-Häuser ließ Berkahan abbauen und auf dem Museumsgelände originalgetreu wieder errichten. Im Museumsgebäude, einem ehemaligen Pferdestall von 1860, liegen Teile des Original-Straßenbelags aus dem Ghetto.

"Der zweite Teil des Museum umfasst die geschlossene, schreckliche Zeit, die negative Zeit. Sie ist geschlossen mit einem Zaun, der in dieser Zeit produziert wurde, mit Fotos aus dem Ghetto. Und wir haben eine Ghettostraße gebaut, die Lutzer Straße, mit Originalsteinen. Wir haben diese Original-Steine beschafft und die die Straße mit ihnen ausgelegt. Auf der anderen Seite sehen wir die antisemitische Propaganda aus Lettland. An der rechten Seite sieht man eine Wand mit 76.000 Juden, die in der Kriegszeit ermordet wurden. Der letzte Stand ist den Transporten aus Westdeutschland, Westeuropa gewidmet. Man kann sehen, wann der Transport war, woher er kam und wie viele Leuten geblieben sind."

In Zukunft soll hier ein Toleranzzentrum entstehen

Doch damit nicht genug. Rabbi Menachem Berkahan hat noch große Pläne:

"Der zweite Teil des Museums wird ein Gebäude mit ungefähr 2000 qm. Dort wird die Ausstellung sein und wir hoffen, ein Toleranzzentrum zu bauen. Die Idee ist: Wir müssen alles tun, um nicht zu vergessen – dass nicht nochmal so etwas Schreckliches passieren wird. Wir haben 30 Bücher über die Vernichtung der Juden in Lettland herausgegeben. In sechs Sprachen. Und an diesem Programm haben mehr als 2000 Schulen, russische, lettische Schulen teilgenommen. Ein Toleranzprogramm, an dem über 300 Lehrer teilgenommen haben. Wir haben drei Gruppen mit lettischen Lehrern nach Yad Vashem in Jerusalem geschickt, zum Studium."

Unermüdlich sammelt der freundliche Mann mit dem gütigen Blick Geld und andere Unterstützung für sein Museum. Dazu organisiert er den "Marsch der Lebenden". Jedes Jahr am 1. Juli erinnert ein großer Umzug an die Opfer der Shoa in Lettland und anderswo. Gemeinsam lesen sie die Namen der 16.000 ermordeten jüdischen Kinder aus Lettland.

Heute leben wieder etwa 9000 Juden in Lettland, die meisten von ihnen in Riga. In die aktuellen Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen mischt sich Berkahan lieber nicht ein. Er nimmt es mit Humor.

"Also, wenn Sie was Schlechtes hören wollen, sie werden es nicht hören: Ein Mann wollte sich von seiner Frau trennen. Fragt ein Freund: 'Chaim, warum willst du dich scheiden lassen?' - 'Wozu soll ich dir das erzählen, es ist doch meine Frau.' Nach kurzer Zeit: 'Nu, Chaim, jetzt bist du bereits geschieden, warum hast du dich scheiden lassen?' - '"Entschuldige, es ist eine fremde Frau, darüber brauche ich also nicht sprechen!"
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