Das episodische Gedächtnis

Wie entstehen Flashbacks?

Ein Anatomiekörper und der Blick auf Teile des Gehirnmodells
Ein Anatomiekörper und der Blick auf Teile des Gehirnmodells © picture alliance / dpa / Peter Endig
Von Marko Pauli · 21.01.2016
Vergangene Ereignisse, die wie aus dem Nichts ins Bewusstsein drängen. Manchmal reicht ein Duft, um eine Erinnerung auszulösen. Wie genau funktioniert diese Form der Erinnerung? Marko Pauli hat sich auf die Spur begeben – und er ist nicht der erste.
Der Erzähler in Marcel Proust's "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" hatte eigentlich gar keine Lust, die Mitbringsel der Mutter, den Tee und das Gebäck, zu sich zu nehmen, dann jedoch:
"In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt."
Erlebtes in gesamter Fülle
Der Erzähler entdeckt in diesem berühmten Beispiel, dass er den Geschmack aus seiner Kindheit kennt und mit ihm die Fähigkeit, dort erlebte Zeiten innerlich zum Leben zu erwecken, mit allen Bildern, Klängen, Geschmäckern und Gerüchen. Bei dieser Form der Erinnerung, dem episodischen Gedächtnis, ist das Gehirn in der Lage, einmal Erlebtes in seiner gesamten Fülle abzurufen.
"Man muss sich das mal vorstellen, was da das Gedächtnis leistet",
Julius Kuhl ist Psychologie-Professor und Leiter der Abteilung für experimentelle Persönlichkeitspsychologie an der Universität Osnabrück.
"Eine Episode besteht aus unendlich vielen Details. Emotionen von mir, von anderen, welche Intentionen meinte ich wahrzunehmen - die inneren Vorgänge gehören auch zur Episode -, was hab ich gesehen? Zeugenaussagen belegen, dass das auch nicht immer alles richtig ist, dass da auch nachträglich was konstruiert werden kann - aber wenn wir überlegen, was wir noch alles objektiv erinnern, obwohl das so an uns vorbeigerauscht ist, ohne Wiederholung, dann ist die Leistung gegenüber Vokabeln lernen unglaublich!"
Die Hauptrolle bei der Formung der Erinnerung spielt der Hippocampus. Hier kommen die Informationen der verschiedenen sensorischen Systeme zusammen, und der Hippocampus sorgt auch dafür, dass sie nicht gleich wieder verloren gehen, er übernimmt quasi das Vokabeln lernen.
"In Wirklichkeit bedient sich das Gehirn eines Tricks. Die Wiederholungen geschehen nämlich intern. Das heißt man braucht dann aber einen Pufferspeicher, und diese Funktion wird dem Hippocampus zugeschrieben. Der nimmt diese ganzen Infos auf und macht ne Szene draus, hat die Reihenfolge, örtliche Infos, wer kam von wo. Und dieser Pufferspeicher sorgt dafür, dass es eingespeichert ist und das wird dann dem Langzeitgedächtnis zugeführt, das geschieht in kleinen Portionen, bevorzugt in Ruhephasen."
Die Nervenzellen im Hippocampus der Mäuse leuchten in den verschiedensten Farben auf.
Die Nervenzellen im Hippocampus der Mäuse leuchten in den verschiedensten Farben auf.© Nature/Jean Livet et al.
Dauerhaft bleiben die Episoden nur im Gedächtnis, wenn sie mit autobiografischen Inhalten gekoppelt sind. Mit dem Beginn der Erinnerung, etwa durch einen äußeren Reiz ausgelöst, werden sie getriggert und reaktiviert. Erinnert man sich bspw. an den vergangenen Urlaub, bilden sich meist vor dem inneren Auge Bilder davon. Deren Wahrnehmung, aber eben auch Erinnerung wird durch den visuellen Cortex ermöglicht, einem mit dem Sehnerv verbundenen Teil der Großhirnrinde. Um das Episodische Gedächtnis besser zu verstehen, hat ein Forscherteam um den Bochumer Psychologen Gerd Waldhauser die Aktivität des visuellen Cortex beeinflusst, durch eine am Schädel angelegte Spule, die ein Magnetfeld erzeugt. Den Versuchspersonen wurde dadurch der Sehsinn gehemmt - in dem Moment, in dem sie sich an zuvor gezeigte Bilder erinnern wollten.
"Die Versuchspersonen haben zwar gemerkt, dass wir stimulieren, aber die haben noch was gesehen - wir haben das sicher gestellt, dass keine visuellen Ausfälle stattfinden, war unter der Schwelle, dass sie es bemerkt haben. Wir haben dieses sensorische Hirnareal beeinflusst, sodass es weniger stark arbeiten kann. Und dann konnten wir für einen Teil dieser Stimuli ein Vergessen zeigen."
Ohne die innere Abbildung der Bilder fällt also das Erinnern an sie schwer. Das Einschalten der Sinnesinformationen – und das ist eine andere neue Erkenntnis durch die Studie – geschieht viel schneller als gedacht, und zwar innerhalb der ersten 100-200 ms nach Beginn des Erinnerns. Zuvor ist man davon ausgegangen, dass es etwa 500 ms in Anspruch nimmt. Das ist im Bereich der Gehirnaktivität ein großer Unterschied, zeigt es doch anscheinend, dass das Episodische Erinnern funktioniert, bevor es zu höher geordneten Kontrollprozessen im Gehirn kommt. Eine Erklärung womöglich für die Überflutung von ungewollten Erinnerungen, wie sie Menschen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen erleben.
"Dass sie an den Ort des Geschehens an dem sie traumatisiert wurden zurückkehren und plötzlich von sensorischen Reizen überflutet werden. Die sehen, riechen, hören wieder, wie es war, als sie beispielsweise angegriffen wurden. Das besondere an dieser Art von Erinnerung ist, dass die Menschen sich in dem Moment nicht wirklich bewusst sind, dass sie sich in dem Moment erinnern. Die haben kein Bewusstsein, dass das nicht in dem Moment stattfindet. Das spricht für eine Art sensorischer Überflutung in solchen Zeitpunkten, in sog. Flashbacks. Mit unseren Ergebnissen gibt's vielleicht einen Ansatzpunkt, wie es zu so einer Überflutung kommen kann."
In unterschiedlicher Komplexität zeugen die diversen Erinnerungen, die wir haben, von unzähligen gespeicherten Episoden. Alle gemeinsam, so der Persönlichkeitspsychologe Julius Kuhl, machen aus, wie wir uns selber sehen:
"Bis hin zu meinem Sein, also einem Bild: Wer bin ich, was kann ich, was mag ich, was tut mir gut, was tut den Menschen um mich herum gut. Dieses Bild von mir selbst, von der Welt und den Menschen um mich, das baut sich auf aus erlebten Episoden."
Vergangene Lebensepisoden anschauen
Um sich selber zu verstehen, könnte es also durchaus hilfreich sein, vergangene Lebensepisoden anzuschauen. Manchmal reicht dafür ein Schluck Tee, ein Stück Gebäck.
Zitator: "Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen."
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