Das Ende der "Vossischen Zeitung"

Von Hartmut Goege · 31.03.2009
Sie war Berlins älteste Zeitung, deren Gründungsgeschichte bis in das frühe 17. Jahrhundert zurückreichte: die "Vossische Zeitung". Für ihr bekanntes Feuilleton hatten schon Lessing und Fontane geschrieben. In den Jahren der Weimarer Republik gab es kaum einen bekannten deutschen Autor, der nicht in der "Vossischen" zu Worte kam. Vor 75 Jahren stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein.
Abschied vom Leser, "Vossische Zeitung", 31. März 1934

"Dass sich die Presse in einer Krise befindet, ist bekannt, und in gewissem Sinne ist die 'Vossische Zeitung' ein Opfer dieser Krise. Die Zeit der Zeitung, wie wir sie sehen, ist nicht vorbei, auch wenn wir durch die Einstellung des Blattes gezwungen werden, uns heute von unseren Lesern, die uns treu geblieben sind, zu verabschieden."

Es war sehr vage, was Erich Welter, Chefredakteur der über 200 Jahre alten "Vossischen Zeitung", am 31. März 1934, in der letzten Ausgabe formulierte. Doch mehr Deutlichkeit wäre für ihn gefährlich geworden. Über die wahren Gründe konnten die Leser nur spekulieren. Der ehemalige Mitarbeiter Wolfgang Goetz erinnerte sich nach dem Krieg:

"Wissen Sie, die 'Voss' hat sich ja im Gegensatz zu vielen anderen Zeitungen, die von Goebbels verboten wurden, selbst umgebracht. Sie gab sich nämlich eines Tages auf und sagte: 'Schluss! Jetzt sind wir zu Ende, wir machen nicht mehr mit.' Und das fand ich sehr vornehm und sehr großartig, wie überhaupt eben das Kennzeichen dieser ganzen Zeitung, die Vornehmheit, die Noblesse war."

Es war wohl auch Resignation. In der altehrwürdigen Zeitung, für die schon Lessing und Fontane geschrieben hatten, vermutete man längst, dass das Ende bevorstand. Im Jahr zuvor - ein halbes Jahr nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler - war das neue Schriftleitergesetz des Propagandaministers Joseph Goebbels installiert worden, um die Presse auf die einheitlich braune Linie zu bringen:

"Das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 verleiht dem Schriftleiter eine grundsätzlich neue Stellung. Er wird nicht mehr lediglich als Angestellter des Verlegers aufgefasst, sondern als selbständiger Träger einer erziehungspolitischen Aufgabe an der Nation. Die Voraussetzung für die Berufsausübung ist die Eintragung in die Berufsliste, die heute rund 15.000 Schriftleiter umfasst."

Für jüdische Schriftsteller und Journalisten hieß das: Berufsverbot. Sie durften nicht in die Liste aufgenommen werden. Zeitungsverlegern, die "illegale" Weiterbeschäftigungen zuließen, drohten Haft- und hohe Geldstrafen. So wurde die "Vossische Zeitung" nach und nach ihrer besten Kräfte beraubt. Redakteure und Autoren, die das hohe Niveau halten konnten, ließen sich immer schwerer finden. Denn die Zeitung besaß einen hervorragenden Ruf als Vertreterin eines kritischen liberalen Bürgertums. Die Gebrüder Ullstein, Besitzer des damals größten Presse-Verlags Europas, hatten das wirtschaftlich kränkelnde Traditionsblatt kurz vor dem Ersten Weltkrieg übernommen. Rudolf Ullstein, einer der fünf Brüder, erinnerte sich 1954 an den Kauf:

"Wir waren damals die Verleger der 'Berliner Morgenpost', der 'Berliner Allgemeinen Zeitung' und verschiedener anderer Wochenblätter. Und wir wurden uns klar darüber, dass es gut sein würde, wenn wir noch eine hochstehende literarische Zeitung hätten, die in der Politik eine erste Nummer sein würde, ebenso in der Wirtschaft. Und was die 'Vossische Zeitung' im besonderen auszeichnete, in der Theaterkritik, in der Buchkritik, in Kunst und Literatur."

Die "Vossische Zeitung" erlebte in der Weimarer Republik eine neue Blütezeit. Wolfgang Goetz:

"Es war absolut aufgetan für die ganze moderne Literatur. Der Hauptmitarbeiter war ja eigentlich Tucholsky, der sowohl in der 'Weltbühne' noch schrieb, aber doch seine sehr gepfefferten Sachen in der 'Voss' brachte. Dann kamen also ganz hervorragende Mitarbeiter. Es war eigentlich kaum ein großer Schriftsteller Deutschlands, der nicht in der 'Voss' zu Worte kam."

Und nun, 1933/34, musste sich das Blatt dem offiziellen Propagandastrom aus Goebbels Giftküche beugen. Der Verfall der Zeitung vollzog sich innerhalb eines Jahres. Nur scheinbar pikant war die Tatsache, dass ausgerechnet die jüdische Familie Ullstein ihren nicht-arischen Mitarbeitern die Kündigung schreiben musste.

Im Hintergrund vollzog sich der "Entzug" des lukrativen Unternehmens aus ihrem Besitz. Ullstein zählte zu Beginn der 1930er-Jahre neben dem Hugenberg-Konzern zu den einflussreichsten Presseunternehmen. Für 6,5 Millionen Mark, höchstens ein Zehntel des tatsächlichen Werts, mussten sie ihren Besitz an die Nazis abtreten. Und selbst diese "Kaufsumme" wurde ihnen bei ihrer Emigration noch geraubt.

Erst 1952 erhielt die Familie Ullstein einen Teil ihres Verlages zurück. Die "Vossische Zeitung" aber blieb für immer Geschichte.