"Das Ende der Verdrängung"

Von Winfried Sträter · 10.06.2013
Zur Vorstellung des Buches "Die Rosenburg" über das Bundesjustizministerium und die NS-Vergangenheit hielt der 90-jährige Ralph Giordano eine bewegende Rede. Der Publizist mit jüdischen Wurzeln hatte die Nazi-Zeit nur mit Glück überlebt. Er habe sich sein ganzes Leben mit der Last herumgeplagt, ein Deutscher zu sein, sagte Giordano in Berlin.
Am Ende erhob sich das Publikum von den Sitzen, stehend applaudierten die Zuhörer dem 90-Jährigen, für den sich mit der Arbeit der unabhängigen Kommission und der Veröffentlichung des Buches "Die Rosenburg" eine scheinbar vergebliche Hoffnung erfüllt:

"Darin lese ich: ‚Das westdeutsche Justizwesen ist in den drei Jahrzehnten nach dem Krieg in ganz erheblichem Maße von einstigen Parteigängern des NS-Regimes bestimmt worden.‘ Das ist einer jener Ecksätze, die schnörkellos eine historische Schande beim Namen nennen, sind Stil und Inhalt, die die ganze Lektüre durchgehalten werden und mich veranlasst haben, die Präsentationsaufgabe zu übernehmen. Ist es doch ein Thema, mit dem ich mich mein ganzes Leben befasst habe und hier nun auf einen Ton stoße, auf den ich so lange vergeblich gehofft hatte: Konfrontation mit konkreten Handlungen; politische und moralische Unbestechlichkeit; innere Positionen, die unberührt sind vom Dunst der Täter- und Mittäterschaft – das Ende der Verdrängung."

Das Ende der Verdrängung: Ralph Giordano, der unter fürchterlichen Umständen und mit großem Glück die Nazi-Zeit überlebt hatte, erregte 1987 großes Aufsehen mit seinem Buch "Die zweite Schuld. Von der Last, ein Deutscher zu sein". Seither ist der Begriff "die zweite Schuld" ein Synonym für die lange Abwehr der Deutschen, sich mit den Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 auseinanderzusetzen.

"Es ist der Stoff meiner eigenen Biografie, der Geburtsfehler der Bundesrepublik Deutschland. Die Ära der zweiten Schuld. Wir leben in einem Land, wo dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die wohlbemerkt hinter den Fronten umgebracht worden sind wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter folgte, das es je gegeben hat."

Giordano erinnerte daran, dass er unmittelbar nach dem Untergang des Nazi-Reiches geglaubt hatte, der Schrecken sei überwunden. Doch dann hörte er im Oktober 1945, wie ein Mann mittleren Alters lauf der Straße sagte:

"‘Die Juden, die Juden sind an allem schuld!‘ ... Es war ein elementares Ereignis für mich, die Geburtsstunde der Erkenntnis: Hitler, und was der Name symbolisiert, war wohl militärisch geschlagen, nicht aber auch schon geistig, oder besser ungeistig."

Der Kampf, diesen Ungeist zu überwinden, wurde für den heute 90-Jährigen zu einem Lebensthema. Als er in den 80er-Jahren mit seinen Büchern zum Bestsellerautor wurde, war die gesellschaftliche Blockade überwunden – nicht aber die Abwehrhaltung in den verantwortlichen Institutionen. Das Bundesjustizministerium unter Minister Engelhard bildete eine Ausnahme: Es begann, sich der Geschichte der Justiz im Nationalsozialismus zu stellen. Aber damit war die Frage, was nach 1945 mit den Tätern geschah, noch nicht beantwortet.

"Keine NS-Spezies aber hat vom großen Frieden mit den Tätern so gründlich profitiert wie die Juristen unterm Hakenkreuz. Richter des ‚Dritten Reiches‘ – Strafrichter, Standrichter, Sonderrichter, Wehrmachtsrichter, Volksrichter - haben 32.000 aktenkundige politische Todesurteile gefällt, die Dunkelziffer kommt auf mehr als 50.000. Von 1942 an haben NS-Richter durchschnittlich 720 Personen im Monat zum Tode verurteilt – eine beispiellose Kopf-ab-Praxis. ... Und doch ist keiner dieser Blutrichter und –Ankläger je rechtskräftig von der bundesdeutschen Justiz verurteilt worden, kein einziger."

Dass nun Bundesministerien und Bundesinstitutionen wie BKA und BND die NS-Geschichte und die langen Schatten der Vergangenheit nach 1949 erforschen: das hat Giordano tief bewegt. Bis zum heutigen Tag wusste er nicht, ob er in der Lage sein würde, seine Rede im Bundespresseamt zu halten – zumal der jahrelang ignorierte Rechtsterrorismus, das Verhalten der staatlichen Institutionen ihn persönlich getroffen und neu verunsichert haben.

"Da droht ein Bollwerk angetastet zu werden, hinter dem ich all die Jahrzehnte lebe, hier in Deutschland. Erst im geteilten, dann im wiedervereinten: die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat. Sie sind mein Elixier, die Luft zum Atmen, die einzige Gesellschaftsform, in der ich mich sicher fühlen kann, etwas Kostbares, auf das sich mein ganzes Dasein stützt."

Deutschland, dieses Land habe ihn angenagelt, sagte Giordano:

"So bin ich denn geblieben, nicht als jüdischer Racheengel oder als verlängerter Arm des strafenden Jehova, sondern als einer, der sich sein ganzes Leben herumschlagen und herumgeplagt hat mit der Last, Deutscher zu sein – deutscher Jude oder jüdischer Deutscher – und der diese Last nicht abwerfen kann und nicht abwerfen will. Versöhnungsbereit gegenüber jedem, der sich ehrlich müht. Aber absolut unversöhnlich gegenüber jeder Art von Unbelehrbarkeit. Sie können das als politisches Testament lesen. Es deckt sich mit der großen Aufgabe, die sich das Justizministerium von heute gestellt hatte, und an der ich beteiligt sein durfte. Mit dem Wunsch, auch weiterhin an Ihrer Seite stehen zu dürfen."


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Giordano bei seiner Rede im Justizministerium mit Winfried Sträter vom Deutschlandradio Kultur© Habig/ BMJ