Das Eis des Schweigens brechen

19.01.2011
Ein schwedischer Eisbrecher und eine heißkalte Familiensaga: Bei Axelsson wird das Leben an Bord zum Handlungsort en miniature und die Kajüte erscheint als Schmelztiegel schmerzhafter Erinnerungen.
Seit ihren Romanen "Die Aprilhexe" (1997/2000) und "Augustas Haus" (2000/2002) zählt Majgull Axelsson zu den erfolgreichsten Autoren Schwedens. Sprachliche Eleganz zeichnet ihre raffiniert gebauten Erzählgerüste aus, die sich spannend wie ein intelligenter Thriller lesen, im narrativen Kern aber in der nordischen Tradition der Familiensaga verwurzelt sind. Das literarische Interesse der sozial und politisch engagierten Autorin gilt dabei immer wieder dem schwedischen Wohlfahrtsstaat, dessen Schattenseiten bis heute nicht aufgearbeitet sind.

Im Zentrum ihres Romans "Eis und Wasser, Wasser und Eis" steht die erfolgreiche schwedische Krimiautorin Susanne, die zusammen mit einem illustren Forscherteam an Bord des Eisbrechers "Oden" Kurs auf die Nordwestpassage nimmt. Die heute eisfreie Passage, die über das Nordpolarmeer durch den arktischen Archipel führt, wurde 1906 erstmals von Roald Amundsen durchquert. Bei Axelsson wird das Leben an Bord zum Handlungsort en miniature und die Kajüte erscheint als Schmelztiegel schmerzhafter Erinnerungen.

Denn Susanne ist der Spross einer Familie, deren Biografie 100 Jahre schwedischer Geschichte umfasst. Ihre Mutter Inez ist die eineiige Zwillingsschwester von Elsie. Als Teenager wird Elsie ungewollt schwanger, doch in der moralischen Enge schwedischer Provinz ist eine Abtreibung undenkbar. Die Zwillingsschwestern machen einen Deal. Inez heiratet, wird Björns Leihmutter und bringt wenig später Susanne zur Welt. Elsie hingegen fühlt sich von jeglicher Last befreit, wird Funkerin und verbringt ihr Leben auf den Weltmeeren. Doch als Björn plötzlich spurlos verschwindet und ein Selbstmord nicht auszuschließen ist, brechen die alten Wunden auf.

In einfühlsamen sprachlichen Bildern, die das Motto des Romantitels vielfach variieren, analysiert Axelsson die seelischen Erschütterungen, die das einstige Ereignis auslöste und zeigt, wie stark es das Leben aller Beteiligten überschattet hat. Indem sich die Zeiten überblenden, tritt das Vergangene immer klarer hervor.

"Eis ist eine Unordnung, die wie eine Ordnung aussieht", lautet ein zentraler Satz des Romans, der wie ein Echolot Signale aussendet. Denn während sich der Eisbrecher seinen Weg durch die Arktis bahnt, bekommt die makellose Fassade Risse, hinter der die Geheimnisse der Familie über drei Jahrzehnte verborgen gehalten wurden. Endlich gelingt es Susanne, das Eis des Schweigens zu brechen und eine Wunde in der Landschaft zu hinterlassen.

Majgull Axelsson ist erneut ein vielschichtiges Psychogramm gelungen, das Schwedens Geschichte aus der Perspektive weiblicher Genealogien beredt macht.

Besprochen von Carola Wiemers

Majgull Axelsson: Eis und Wasser, Wasser und Eis
C. Bertelsmann Verlag 2010
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
544 Seiten, 22, 99 Euro