Das dritte Geschlecht

Von Margarete Blümel · 22.07.2010
Gerne gesehen sind sie nicht, und doch haben die Eunuchen einen festen Platz in der indischen Gesellschaft. Ihren Forderungen stellt sich kaum jemand entgegen - denn den sogenannten Hijrahs werden magische Kräfte zugesprochen.
Nicht nur der Höhe wegen löst die Aussicht von einer der Dachterrassen in Chandni Chowks, einem Basarviertel im indischen Delhi, Beklemmung aus: Das dichte Treiben in den Gassen hat fast etwas Beängstigendes. Eine unüberschaubare Menschenmenge schiebt und schubst sich durch die größte Einkaufsmeile der indischen Hauptstadt.

Frauen halten ihre Handtaschen an die Brust gepresst, um nicht bestohlen zu werden. Müde Kinder zerren an den Armen ihrer Eltern. Händler feilschen lautstark mit den Kunden. Lastenträger wanken unter ihren auf dem Kopf aufgetürmten Lasten über das Trottoir. Wer hier auf sich aufmerksam zu machen sucht, hat es nicht leicht. Er muss lauter, schriller, fordernder sein als die Anderen.

Was das angeht, können die gerade nahenden fünf Leute ohne Weiteres mithalten. Sie sind daran gewöhnt, sich stimmlich und über ein unmissverständliches Repertoire an Gesten Raum zu schaffen. Im Nu hat sich inmitten des quirligen Geschehens eine Gasse gebildet - ein Durchlass für die Vertreter des sogenannten dritten Geschlechts, der Hijrahs.

"Wenn Sie zahlen, gehen die Hijrahs weiter. Wenn Sie Ihnen nichts geben, dann machen sie Ihnen zu schaffen!"

Nicht nur Geschäftsleute wie der Stoffhändler Anul Mitra trennen sich lieber von ein paar Rupien, als Ärger mit den aggressiven Bittstellern zu provozieren. Schließlich wissen sie, wozu ihr Gegenüber in der Lage ist, wenn die geforderte Spende verweigert wird. Zuerst wird der Hijrah anstößige Lieder zum Besten geben. Um gleich darauf den Sari zu lüften und die Genitalien zur Schau zu stellen. Starker Tobak in einem prüden Land wie Indien. Und nicht nur das: Eine jahrhundertealte Überlieferung besagt, dass der ungewollte Anblick der Schamgegend eines Hijrahs dem Betrachter sieben Jahre Unglück bringen soll.

Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, setzen die Hijrahs zudem das Fataka, ein penetrant-scharfes Klatschen ein, das an die Vereinigung zweier Körper erinnern soll. Der in Delhi lebende Anthropologe Kumar Aggarwal:

"Nein, das können Sie nicht! Versuchen Sie es gar nicht erst. Schon wie die Hijrahs die Hand dabei nach unten drehen, ist ganz eigentümlich. Sie klatschen eben nicht auf gewöhnliche Weise."

Die meist als Männer geborenen Hijrahs gelten unter ihren Landsleuten als Angehörige des dritten Geschlechts. Unabhängig davon, ob sie sich nachträglich einer Kastration unterzogen haben oder nicht. Und ungeachtet dessen, dass sich die Hijrahs selbst in der Regel als weiblich ansehen, sich entsprechend kleiden und bewegen. Die Diskrepanz zwischen den einerseits kantigen, aber grell und aufwändig geschminkten Gesichtern der Hijrahs könnte kaum augenfälliger sein. Ein Eindruck, der verstärkt wird durch die rauen Stimmen, die aus einem unverkennbar maskulin geformten Körper kommen, der in das weiblichste aller Kleidungsstücke, in den Sari, gehüllt ist.

"Viel Geld bekommen die Hijrahs durch Betteln. Sie tanzen und singen, in Zügen, Bussen und auf Bahnhöfen.... Und dann halten sie die Hand auf. Eine noch lukrativere Einnahmequelle sind Geburten oder Hochzeiten von Mittelstandsfamilien. Da kommen binnen ein, zwei Stunden leicht an die zehntausend Rupien für die Hijrahs herum. Und neue Kleider gibt es obendrein."

Mehr als 500.000 Hijrahs sollen in Indien leben. Allein im Großraum Delhi wird ihre Zahl auf an die fünfzehntausend geschätzt. Es ist eine verschworene Gemeinschaft, deren Mitglieder sich kaum je zu einem Interview bereit finden, es sei denn, gegen sehr viel Geld. Wird diese Forderung abgelehnt, sind die Hijrahs dafür bekannt, mit Flüchen und Beschimpfungen nicht zu geizen.

"Die Hijrahs haben ein ureigenes hierarchisches System. An der Spitze steht die sogenannte Mutter Hijrah und wenn ein solcher Gruppenführer zum Beispiel sagt: Nein, wir gehen jetzt! Dann wird sich dem niemand entgegenstellen - sie werden eben gehen."

Die meisten Hijrahs leben unter ihresgleichen in einer Art Wirtschaftsgemeinschaft. Ihren Führer reden sie mit Mutter oder Guru an. Die Mutter ist für die materiellen Bedürfnisse der Gruppenmitglieder zuständig, sie – oder besser: er - sorgt dafür, dass die Schutzbefohlenen gesund sind und einen Schlafplatz haben. Der Anführer teilt die Reviere ein, besticht die Polizei und holt seine Schützlinge im Bedarfsfall aus dem Gefängnis. Im Gegenzug erwartet die Mutter-Hijrah unbedingten Respekt und den Löwenanteil der kompletten Einnahmen.

Hijrahs sind Anhänger der Göttin Bahuchara Mata. Bahuchara war ursprünglich ein Hindumädchen, das während eines Spaziergangs beinahe vergewaltigt worden wäre. Um der Schändung zu entgehen, entriss Bahuchara dem neben ihr stehenden Jungen das Schwert und trennte sich die Brüste ab. Nachdem das Mädchen an den Folgen seiner Selbstverstümmelung verstorben war, errichteten die Bewohner der Umgebung ihr ein Heiligtum. Bald danach hatte sich die Legende der Bahuchara über ganz Indien ausgebreitet. Ihre Anhänger leisteten den Schwur, sich auf Befehl der Göttin zu entmannen und sich ihr durch das Tragen von Frauenkleidung so weit wie irgend möglich anzunähern.

Bis heute soll es junge Männer, denen die Göttin Bahuchara im Traum die Weisung erteilt, sich ihrer Geschlechtsmerkmale zu entledigen. Meistens werden die späteren Vertreter des dritten Geschlechts allerdings gleich nach ihrer Geburt von einem Hijrah-Führer aufgespürt. Sobald die regionale Hijrah-Gemeinschaft davon erfährt, dass in ihrem Bezirk ein Junge mit schwach ausgebildeten Geschlechtsmerkmalen geboren worden ist, fordert ihr Guru das Kind von seinen Eltern ein. Badam-Mandel wird ein solcher Junge genannt.

In den Augen seiner Umwelt weist er einen eklatanten Makel auf. Auch deshalb übergeben viele Eltern ihr Kind ohne größeren Widerstand den Hijrahs. Wie viele Hijrahs sich danach dem Kastrationsritual ihrer Gemeinschaft unterziehen müssen, liegt im Dunkeln. Kein Geheimnis ist allerdings, dass einige von ihnen den von selbsternannten Hijrah-Ärzten durchgeführten Eingriff nicht überleben.

"Das ist natürlich illegal. Es gibt verschiedene Untersuchungen zu dem Thema. Manchmal wird behauptet, es gebe doch viel mehr solcher Fälle, in denen Hijrahs sogar von ihren Kumpanen zu dem gemacht werden, was sie schließlich sind. Ihre Geschlechtsteile werden einfach abgeschnitten! Danach sind sie für nichts anderes mehr zu gebrauchen. Sie taugen nur noch für dieses Gewerbe."

Hijrahs leben am Rande der Gesellschaft. Einerseits schlägt ihnen Verachtung und Spott entgegen, andererseits werden sie gefürchtet, weil sie magische Kräfte besitzen sollen. Ihr Sonderstatus als Zwitterwesen ermöglicht es, dass sie weibliche und männliche Energie in sich vereinen, dass sie zwar selbst unfruchtbar sind, aber dank der Macht der Göttin Bahuchara Neugeborenen ihren Segen schenken können.

"Hijrahs haben viele Kontakte, zum Beispiel in der Stadtverwaltung. Dadurch sind sie immer auf dem Laufenden. Außerdem statten sie den Bewohnern ihres Einzugsgebietes routinemäßig Besuche ab. Jede Gruppe kontrolliert bestimmte Bezirke. Hijrahs werden sich immer nur in ihrem Gebiet bewegen. Wenn sie sich auf einer ihrer Stippvisiten vor Ort befinden, fragen sie, ob sich irgendetwas ereignet hat. Und wenn ich dann zum Beispiel sage: ' Nein, hier bei uns nicht! Aber dort drüben, in dem Haus, da war gerade eine Geburt, machen sie sich sofort auf den Weg dorthin."

Gefragt oder ungefragt gesellen sich Hijrahs zu den Gästen von Hochzeitsfeiern oder besuchen frisch gebackene Eltern. Sie segnen das Kind oder das Brautpaar. Oder sie verfluchen es.

"Als die Hochzeitsfeier meines Sohnes zu Ende war, gab ich den dazugekommenen Hijrahs Geld. Im Gegenzug überreichten sie mir einen Zettel und sagten: Wir sind Shano Bhais Leute und falls eine andere Gruppe kommen sollte, sagen Sie ihnen, dass dieses Gebiet hier Shano Bhais Bezirk ist. Wenn andere kommen, um hier zu tanzen, teilen Sie ihnen mit, dass das nicht geht. Denn dieses Haus gehört zu unserem Gebiet und wir haben hier schon getanzt und aufgespielt."

Sagt die in Delhis Nobelviertel Vasant Vihar lebende Geschäftsfrau Nirja Seth. Ihre Familie ist eher westlich orientiert. Zur Hochzeitsfeier hatte niemand aus der Familie die Hijrahs eingeladen. Niemand von ihnen brauche deren Segen, meint Nirja Seth. Doch nachdem sie da waren, hätte man sich ihrer nur durch Polizeigewalt entledigen können. Und außerdem - von ihnen verflucht zu werden, sei ja vielleicht doch ein schlechtes Vorzeichen für eine Ehe.

"Bei uns ist eine Hochzeit ein sehr freudiges Ereignis. Alle haben sich hübsch zurecht gemacht und es wird getanzt. Aber wenn Hijrahs dabei sind, verderben sie die ganze Stimmung. Aus diesem Grund zieht man es vor, so wenig Zeit wie irgend möglich mit ihnen zu verbringen."

Ob arm oder reich, ob ahnungsloser Passant oder durch Wachpersonal abgeschirmte Villenbesitzerin – kaum jemand ist vor den Segnungen oder Verfluchungen der Hijrahs gefeit. Aber während die einen ihnen Geld geben, damit sie sich möglichst schnell davon machen, suchen andere ihre körperliche Nähe.

Ein Vergnügungspark im Westen Delhis. Kinder sitzen in den Gondeln eines noch mit Handkurbel betriebenen Mini-Riesenrades. Sie warten auf den Mann, der gerade die letzte Platzkarte verkauft, bevor er das Gefährt in Gang setzen wird. Erwachsene schlendern umher, kaufen sich pikant gewürzte Gemüsebällchen, Cola Light oder süßen Milchtee. Ein paar Jugendliche schlendern mit gezückten Handys und demonstrativem Desinteresse für den Rest der Welt über den Platz. Bis sich ein paar Gestalten nähern, die schlagartig die geballte Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich vereinen.

Geh‘ weg, Schwester! Hau ab. Kein Mikrophon! Wir sagen sowieso nichts, ruft ihr Anführer. Er hat drei andere Hijrahs im Schlepptau. Sie machen einigen der Männer im Vorübergehen Avancen, indem sie auf deren Hosenschlitz weisen und eindeutige Gesten in Richtung auf das nahe Gebüsch vollführen. Unter ihren goldbestickten Saris zeichnen sich eckige Hüften ab. Lasziv schlendern sie über den Platz. Einer der vier leckt sich langsam und vielversprechend über die knallrot geschminkten Lippen.

Das unverhohlene Spiel der Hijrahs mit sexuellen Reizen finden die meisten indischen Männer gemäß Umfragen tagsüber abschreckend, nachts aber durchaus anregend. Nicht ohne Grund arbeiten viele Hijrahs als Prostituierte, deren Dienstleistungen begehrt sind.

New Delhi, Lodhi Road, acht Uhr morgens. Sicher vierzig bis fünfzig Kleinwagen haben sich vor der Ampel aufgereiht. Vier Fahrradfahrer, ein paar Männer auf Motorrollern und ein Elefant mit seinem Hüter obenauf warten auf Grün, um sich endlich wieder in Bewegung setzen zu können.

Auf jeden neu ankommenden Wagen schießt sofort eines der am Straßenrand wartenden Kinder zu, um mit einem schmutzigen Lappen die Windschutzscheiben zu bearbeiten. Die meisten schauen angesichts der ungebetenen Dienstleistung stur nach vorn. Wer es vergessen hat, wird spätestens jetzt die Fensterscheiben schließen. Zum einen, um nicht in die Hände der Fensterputzer zu fallen. Zum anderen, damit niemand aus dem gerade ausschwärmenden Trupp von Hijrahs Segensrufe ins Wageninnere entlassen kann - und dafür Geld verlangt.

Am Bild, das die meisten Inder von den Hijrahs haben, hat sich über die Jahrhunderte hinweg nur wenig geändert.

"Es ist doch so: Eigentlich sind sie weder männlich noch weiblich. Punkt. Und zumindest, wenn sie als Gruppe auftreten, bereiten sie Scherereien."

"Es gibt nur ganz wenige Leute, die gut zu ihnen sind. Weil dieses Gefühl vorherrscht, sie seien minderwertig. Sie gelten als Leute, die dauernd Ärger machen, als Landplage."

"Trotz allem kann ich Ihnen nicht verhehlen: Ich habe große Angst vor den Hijrahs."

Obwohl vor ein paar Jahren überraschend ein Hijrah ins Parlament des Bundesstaates Madhya Pradesh einzog, Hijrah–Politiker Bürgermeisterposten übernehmen und in sogar diversen Filmen das Los der Vertreter des dritten Geschlechtes thematisiert wird - zuweilen sogar mit einem Schuss Sympathie. Aber auch die Hijrahs nutzen die Medien der neuen Zeit.

Sie vernetzen sich und sie fordern Anerkennung. Einen Teilerfolg konnten sie erst kürzlich verbuchen. Nach langem hin und her hat die höchste indische Wahlkommission beschlossen, dass auf Wahlzetteln bei der Frage zum Geschlecht in Zukunft drei Optionen vermerkt sein werden: männlich, weiblich und - anders.