Das Dilemma der Gegenwart

14.09.2007
Der Text von Botho Strauß ist das Ergebnis einer Krise. Denn er erzählt nicht mehr. Er erzählt jedenfalls ganz anders als die drei Geistesverwandten Kleist, Novalis und Hofmannsthal, auf die Strauß sich beruft. Über weite Strecken ist "Die Unbeholfenen" ein philosophisches Gespräch, das von kurzen Regieanweisungen unterbrochen wird.
"Bewußtseinsnovelle", natürlich mit scharfem S! Schon im Untertitel zeigt Botho Strauß, dass es ihm um alles geht. Er nennt in dieser kurzen, aber hochdosierten Prosa von 122 Seiten drei Gewährsleute, in deren Tradition er sich sieht: Kleist mit seinem "Marionettentheater", Novalis mit seinem Klingsor-Märchen und Hofmannsthal mit seinem Chandos-Brief.

Das ist, obwohl Botho Strauß so ein Wort nie gebrauchen würde, fürwahr die Champions-League. Der Autor nennt seine Vorgänger in einem bestimmten Zusammenhang: in allen drei Texten geht es um die Form der symbolischen Erzählung, die als Resultat einer gesellschaftlichen Krisenstimmung entsteht. Solch eine Krise sieht er heute ebenfalls, und zwar in eklatantester Weise. Und er fragt sich: wie sieht heute eine symbolische Erzählung als Reaktion auf diese Krise aus, welches Symbol steht für das Heute? Die "Bewußtseinsnovelle" beschreibt sich selbst als Versuch, dieses Symbol zu finden.

Insofern ist Strauß' Text tatsächlich das Ergebnis einer Krise. Denn er erzählt nicht mehr. Er erzählt jedenfalls ganz anders als die drei angerufenen Geistesverwandten. Strauß reflektiert, analysiert, vor allem aber lässt er Monologe und Dialoge verschiedener Protagonisten aufeinanderfolgen. Über weite Strecken ist der Text ein philosophisches Gespräch, das von kurzen Regieanweisungen unterbrochen wird.

Ein Zeichen der heutigen geistigen Krise ist also, dass die Kraft zu einem zentralen erzählerischen Symbol fehlt, dass alles auseinanderstiebt, dass nichts mehr zu fassen ist. Manchmal blicken die Sprechenden sehnsüchtig zurück zu Hofmannsthal Chandos-Brief, in dem genau dies thematisiert wird - aber mit welchen bildnerischen Mitteln! Mit Metaphern! Mit wahrhaft literarischem Furor! Heute sprechen die Figuren elegant, gewitzt, flüssig - aber sie finden zu keinem Zentrum mehr. Und können schon Sekunden später ohne Probleme das Gegenteil sagen.

Ein Buch auf hohem Niveau. Ein anstrengendes Buch. Strauß "beweist" durch seine "Bewußtseinsnovelle", wie es heute steht, er beweist es durch die Form. Natürlich gibt es einen äußeren, erzählerischen Rahmen: Die Ich-Figur findet sich in einem entlegenen alten Haus in einem öden Gewerbepark in der Vorstadt und gerät hier durch seine neue Geliebte in eine eigentümliche Familie hinein: Geschwister, die eine Gegenwelt zu errichten versuchen.

Hier finden die Gespräche statt, die das Dilemma der Gegenwart effektiv inszenieren. Man kennt die Thesen, die hier ausformuliert werden, bereits durch Strauß' Essays, allen voran den "anschwellenden Bocksgesang". Diese Geschwistergesellschaft, die die Krise genau benennt, ist aber selbst Teil der Krise - in einer wilden Volte macht Strauß dies deutlich. Es gibt eine novellistische "unerhörte Begebenheit", die dem Geschehen eine Wendung gibt und die langen Gesprächsreihen, aus denen das Buch zum großen Teil besteht, aufbricht.

Plötzlich geht es in ein Märchen über. Plötzlich wird wirklich erzählt. Das gesuchte Symbol ist zwar nicht gefunden worden. Aber dennoch versucht das Buch, der Entindividualisierung, die es anprangert, etwas entgegenzusetzen. Der Leser jedoch bleibt in seinem Zwiespalt zurück.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Botho Strauß: Die Unbeholfenen. Bewußtseinsnovelle
Hanser-Verlag, München 2007, 122 Seiten, 12,90 Euro