Das deutsche Chemiemonster

06.07.2011
Der britische Journalist Diarmuid Jeffreys liefert eine schlüssige Geschichte der IG Farben: Von den Anfängen der chemischen Pioniere über die Profiteure des Holocaust und die Nürnberger Prozesse bis zum Wiederaufstieg im Wirtschaftswunderland.
Die Sklavenarbeiter wurden auf dem riesigen Baugelände mit Fußtritten und Schlägen traktiert, einige wurden sogar erschossen. "Stille Männer in sauberen Zivilanzügen" liefen an den Leichen vorbei, an den schuftenden Häftlingen, den prügelnden Kapos und den schießenden SS-Leuten. "Sie machten sich kurze Aufzeichnungen in schwarz eingebundene Notizbücher, ohne das Blutbad um sie her zu beachten", schilderte der Auschwitz-Häftling Rudolf Vrba später. Es war im Jahr 1941, als das größte Vernichtungslager der Nationalsozialisten von Sklavenarbeitern errichtet wurde: Auschwitz-Birkenau, wo später mehr als eine Million Menschen ermordet wurden.

Ein paar Kilometer weiter östlich ließen die stillen Männer in den sauberen Zivilanzügen ein anderes Lager errichten: Auschwitz-Monowitz, wo das Buna-Werk der IG Farben entstehen sollte, das erste Arbeitslager, das von einem privaten Industrieunternehmen geplant und finanziert wurde. Von der IG Farben, der Interessengemeinschaft, in der sich 1925 die wichtigsten deutschen Chemieunternehmen zu einem der größten Weltkonzerne zusammengeschlossen hatten – "Hitlers Kartell", wie Diarmuid Jeffreys in seinem überfälligen Buch und verdienstvollen Buch das IG-Treiben für die Kriegsjahre bezeichnet. Überfällig, weil es erstaunlicherweise wenig Buchveröffentlichungen zu diesem Chemiemonster gibt, das aus Chemieunternehmen gebildet wurde, ohne deren Produkte – von der Uniform bis zum Giftgas – die Deutschen schon den Ersten Weltkrieg nicht hätten führen können.

Der Journalist Otto Köhler hatte vor einem Vierteljahrhundert seinen Band "…und heute die ganze Welt" veröffentlicht. Und als der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser vor neun Jahren eine Unternehmensgeschichte der BASF, einer IG-Farben-Säule, herausgab, behandelten von den 763 Seiten gerade mal 73 Seiten (aus der Feder eines britischen Historikers) die hochprofitable NS-Zeit. Die lieferte für das Buna-Werk in Auschwitz-Monowitz zehntausende Arbeitssklaven. Wenn sie nicht mehr arbeiten konnten, wurden sie ein paar Kilometer weiter westlich, in Auschwitz-Birkenau, vergast - mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B aus dem Hause IG Farben.

Der britische Journalist Diarmuid Jeffreys, der auch schon ein Buch über das Bayer- und mithin IG-Farben-Medikament Aspirin geschrieben hat, liefert eine flüssige und schlüssige Geschichte der Interessengemeinschaft: Von den Anfängen der chemischen Pioniere im Bergischen Land im 19. Jahrhundert über die Profiteure des Holocaust bis hin zu den Nürnberger Prozessen gegen die wichtigsten Manager und den Wiederaufstieg im bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderland, wo die wichtigsten drei (BASF, Bayer und Hoechst) rasch wieder zu globalen Chemie- und Pharmamächten wurden (und ihre in Nürnberg zu geringen Strafen verurteilten Spitzenleute mit Bundesverdienstkreuzen geehrt wurden).

Das liest sich rasant, ist gelegentlich – vor allem, wenn es um die Nürnberger Prozesse geht – reportagehaft und sehr literarisch. Das fußt aber auch auf gründlicher Recherche unter anderem in den Archiven von BASF, Bayer und Hoechst, die sich ihm geöffnet haben. Auf das Buch eines deutschen Historikers zur IG Farben darf weiter gewartet werden.

Besprochen von Klaus Pokatzky

Diarmuid Jeffreys, Weltkonzern und Kriegskartell. Das zerstörerische Werk der IG Farben
Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Werner Roller
Blessing Verlag, München 2011
687 Seiten, 34,95 Euro
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